Im Sportteil der aktuellen Ausgabe des Hamburger Magazins Der Spiegel findet sich ein interessanter Artikel, der die gängige Darstellung des westlichen Mainstreams zum angeblichen systematischen russischen Staatsdoping bei den olympischen Winterspielen in Sotschi 2014 infrage stellt.
Konkret äußert der Artikel des Sportredakteurs Thilo Neumann Zweifel an der Glaubwürdigkeit des angeblichen Whistleblowers Grigorij Rodtschenkow. Rodtschenkow, früherer Leiter des Moskauer Dopingkontrolllabors, hatte sich in die USA abgesetzt und dort in einem Interview mit der New York Times von einem staatlich unterstützten Dopingsystem in Sotschi berichtet, mit dem während der Olympiade belastete Dopingproben russischer Sportler gegen unbelastete Proben ausgetauscht worden seien.
Der Artikel lässt zunächst ausführlich und wohlwollend die frühere russische Biathletin Olga Saizewa zu Wort kommen. Saizewa wurde nach Ende ihrer Laufbahn wegen ihrer angeblichen Teilnahme am angeblichen Dopingsystem in Sotschi lebenslang vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) gesperrt. Diese Entscheidung ficht die Russin, die ihre Unschuld beteuert, mit weiteren Sportlerinnen vor dem Sportgerichtshof CAS in Lausanne an. In New York verklagen die Sportlerinnen Rodtschenkow darüber hinaus auf Schadenersatz.
Dann erklärt der Autor, sein Magazin habe Prozessakten einsehen können, die die Aussage der Biathletin stützten, dafür aber an Rodtschenkows Darstellung zweifeln. Wörtlich heißt es:
Mehrere Beweismittel der Schweizer Prozessakte, die der Spiegel in den vergangenen Wochen einsehen konnte, stützen nicht nur Saizewas Unschuld. Sie werfen auch die Frage auf, wie glaubhaft die Aufarbeitung des Sotschi-Komplotts wirklich war. Ob man womöglich dem Whistleblower des Skandals allzu sehr geglaubt hat.
Der Spiegel-Artikel betont zwar, dass russische Sportler jahrelang manipuliert hätten, und spricht von "Finten aus Moskau" bei der Aufarbeitung des Skandals. Dennoch gelangt er zu dem Schluss, dass die Ermittlungen der Weltantidopingagentur Wada und die Entscheidungen des IOC sich auf eine Indizienkette stützten, vor allem auf die Aussagen Rodtschenkows, die Saizewa als "Fantasiegeschichte" bezeichnet. Auch den bayerischen Trainer der Biathletin lässt das Magazin zu Wort kommen. Er bezeichnet die Berichte des "Whistleblowers" über einen Dopingcocktail als "totalen Schmarrn".
Der Spiegel verweist auch auf eine weitere Dimension des Falles. Inspiriert von den Aussagen des angeblichen Whistleblowers wurde in den USA ein Gesetzentwurf auf den Weg gebracht. Der "Rodchenkov Act" sieht vor, dass US-amerikanische Behörden Doping international als Straftat verfolgen können. Die Ironie dieses Vorhabens, das offenbar auch darauf abzielt, die USA unabhängiger von der Wada zu machen, fällt selbst dem Spiegel-Redakteur ins Auge:
Die USA als globale Dopingpolizei, initiiert durch Rodtschenkows Geschichte? Das klingt ziemlich abenteuerlich, weil die Vereinigten Staaten selbst oft genug weggesehen haben, wenn Athleten des eigenen Landes unter Verdacht standen.
Der Spiegel-Artikel ist bemerkenswert, weil sich das unter schwindender Nachfrage leidende Magazin mit ihm dezidiert vom westlichen Mainstream absetzt, der Rodtschenkow – wie der Spiegel bislang selbst – als tapferen Whistleblower feiert und seinen Aussagen zum russischen Dopingsystem folgt.
Diese Wende ist nicht der erste Ausbruch des Magazins aus der medialen Anti-Russland-Phalanx des Mainstreams. Im November 2019 hatte ein Artikel im Wirtschaftsteil des Spiegel die Darstellung des Falles Sergei Magnitski im westlichen Mainstream zerpflückt und kaum einen Zweifel daran gelassen, dass die auf den Investor Bill Browder zurückgehende Erzählung von dem gewaltsamen Tod des Wirtschaftsprüfers in einem russischen Gefängnis auf Lügen beruht.
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