Russland kann einen nuklearen Vergeltungsschlag ausführen, wenn eine ballistische Rakete auf sein Territorium abgeschossen wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen nuklearen oder einen konventionellen Sprengkopf handelt. Diese Richtlinien sind im Dekret "Über Grundlagen der staatlichen Politik der Russischen Föderation im Bereich der nuklearen Abschreckung" enthalten, das am Dienstag vom russischen Präsidenten Wladimir Putin unterzeichnet wurde.
Zu den im Dokument skizzierten Bedrohungen gehören die Stationierung von Raketenabwehr (ABM), ballistischen Raketen und Hyperschallwaffen durch Länder, die Russland als möglichen Gegner betrachten. In diesem "kohärenten Dokument" werde deutlich angegeben, was Russland zum Einsatz von Nuklearwaffen zwingen könnte, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow.
Dabei wird hervorgehoben, dass Russland niemals Initiator des Einsatzes von Atomwaffen sein kann und wird.
Generaloberst Wiktor Jessin, ehemaliger Chef des Generalstabs der russischen Strategischen Raketentruppen, erklärte der staatlichen russischen Nachrichtenagentur TASS, dass in Russland ein solches Dokument als Anhang zur Militärdoktrin herausgegeben wurde. Es war nicht geheim, wurde aber nicht veröffentlicht. Ein ähnliches öffentliches Dokument namens "Nuclear Posture Review" wird in den Vereinigten Staaten regelmäßig publik gemacht.
Dem in Russland gefragten Militärexperten Wiktor Murachowski zufolge ist das Dokument auch ein Signal an Russlands Partner im START-3-Vertrag und die Mitgliedsstaaten des UN-Sicherheitsrates. Das Dokument sei vor allem an die USA und ihre Verbündeten gerichtet, also an jene Staaten, die Russland als Bedrohung betrachten.
Die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen sind dort detailliert aufgeführt. Es wird ein Vergeltungsschlag sein – als Reaktion auf den Einsatz von Atomwaffen oder als Reaktion auf den Einsatz eines Enthauptungsschlags durch den Feind, d.h. [einen Angriff] auf zentrale Stellen der Militär- und Staatsverwaltung. Zugleich wird nichts über den Umfang gesagt. Dies ist eine Antwort auf die amerikanische Doktrin des begrenzten Nuklearschlags, des Einsatzes von Sprengköpfen mit ultraniedriger Sprengkraft, Punktanschlägen und so weiter", erklärt der Experte.
"Dies ist ein Beispiel für Transparenz und ein Signal, dass wir, wenn START-3 nicht verlängert wird, unsere Politik auf der Grundlage dieses Dokuments fortsetzen werden", fügte Murachowski hinzu.
Jessin erklärte, dass die Veröffentlichung des Dokuments das Problem der Verlängerung von START-3 nicht lösen wird, da die Hauptbedingung für die Verlängerung des Vertrages durch die Vereinigten Staaten der Beitritt Chinas zum Abkommen ist. "Washington und Moskau haben ein genaues Bild von den nuklearen Fähigkeiten des jeweils anderen, während die Einschätzung von Experten, China verfüge über ein Arsenal von etwa 300 Nuklearladungen, nicht kritikwürdig ist."
Bei der medialen Reaktion in den USA und mit diesen verbündeten Ländern, die bereits vorliegen, liegt das Hauptaugenmerk auf möglichen Verschiebungen in der Russland-NATO-Beziehung. Der neue, erweiterte Wortlaut spiegele Russlands Besorgnis über die Entwicklung vielversprechender Waffensysteme wider, die es Washington ermöglichen könnten, wichtige Militäreinrichtungen und Regierungszentren ohne den Einsatz von Atomwaffen anzugreifen, zitiert TASS die Nachrichtenagentur AP. Ähnlich bewerten die kanadischen Medien CTV und The Globe and Mail das Dokument. Laut der japanischen Nachrichtenagentur Kyodo News sendet Moskau mit der Veröffentlichung ein "Signal an Washington", ohne den Adressaten beim Namen zu benennen.
Dr. Nikolai Sokow vom Vienna Center for Disarmament and Non‑Proliferation (Deutsch: Wiener Zentrum für Abrüstung und Nichtverbreitung von Kernwaffen) analysierte das Dokument ausführlich. Er bewertet es positiv, denn es schaffe mehr Klarheit über die russische Nuklearpolitik, und diese ist "immer willkommen". Es werde auch eine positive Wirkung zeitigen. Denn Vagheit berge die Gefahr, den Gegner zu ermutigen, der fälschlicherweise glauben könnte, bestimmte Vorgehensweisen riefen keine entschiedene Reaktion hervor. Dennoch:
Das Dokument wird die Debatte im Westen über die russische Nuklearpolitik nicht beenden. Es wird diejenigen nicht betreffen, die sich weigern, auf rationale Argumente zu hören", schränkte der Experte ein.
Sokow vergleicht die neue Doktrin mit älteren Dokumenten zur Nuklearstrategie, die die russische Militärführung seit den 1990er-Jahren alle fünf bis sechs Jahre neu formuliert. Sie zeige eine "bemerkenswerte Konsequenz", denn die konzeptionellen Grundlagen seien die gleichen geblieben. Der aktuelle Erlass sei vor allem neuen externen Entwicklungen sowie Verbesserungen der militärischen Fähigkeiten Russlands geschuldet. Er wies auch auf die "tobende Debatte" in den USA über Russlands angebliche Abschreckungspolitik hin.
Im Mittelpunkt dieser Debatte stand die Frage, ob Russland eine Politik der "Eskalation bis zur Deeskalation" betreibt, d.h. des begrenzten Einsatzes von Atomwaffen inmitten eines konventionellen Konflikts.
Bis auf einige Widersprüche spreche jedoch vieles dafür, dass Russland "konsequent" eine "Deeskalationsstrategie betreibt.
Mit dem Erlass soll den Vermutungen über die "offensive Abschreckung" ein Ende gesetzt werden – eine Vermutung, der zufolge Russland eine Aggression beginnt und die Drohung, diese "nuklear zu machen", nutzt, um die Vereinigten Staaten und die NATO daran zu hindern, alle verfügbaren Mittel zur Abwehr einzusetzen", schreibt der Experte.
Er weist dabei auf das populärste Szenario hin, dass Russland baltische Staaten besetzen könnte – eine "Eventualität, die als Rechtfertigung für den W76-2-Sprengkopf und andere Programme, wie z.B. die Entwicklung und Stationierung von Mittelstreckenraketen mit doppeltem Wirkungsgrad und Bodenabschuss, dienen könnte".
Abgesehen von der Frage, wozu Russland die baltischen Staaten brauchen sollte, stellt das Dekret klar, dass Atomwaffen ausschließlich für ein Szenario reserviert sind, in dem Russland angegriffen wird", so Sokow.
"Überdeutlich" (Absatz 13 im Dokument) sei auch der Hinweis, dass die nukleare Abschreckung nicht nur für jene Staaten gilt, die über Kernwaffen verfügen, sondern auch für deren Verbündete. Staaten, die der NATO beitreten, um ihre Sicherheit vor Russland zu gewährleisten, werden damit auch zu legitimen nuklearen Zielen.
Während des Kalten Krieges war (unter diesen Staaten) Westdeutschland die offensichtliche Führungsmacht, heute konkurrieren andere Länder um diese zweifelhafte Ehre.
Der Experte merkt auch an, dass das aktuelle Dokument im Unterschied zu den Militärdoktrinen von 2010 und 2014 von einer neuen Bedrohung spricht. Während in den früheren Dokumenten "die Bedrohung der Existenz der Russischen Föderation" als Grund angeführt wird, der den Einsatz von Nuklearwaffen rechtfertigen würde, ist diesmal von der "Souveränität und territorialen Integrität" (Absatz 4) der Russischen Föderation die Rede.
Heute kann man sich auch leicht eine Situation vorstellen, in der die "Existenz" Russlands nicht bedroht wäre, wohl aber seine "territoriale Integrität" – zum Beispiel durch den Versuch, die Krim mit Gewalt wieder in die Ukraine einzugliedern", so Sokow.
Laut dem Experten bietet das neue Dekret eine wichtige Grundlage dafür, die russische Position in der allerwichtigsten Frage der internationalen Sicherheit zu verstehen – für Russlands Partner, aber auch für diejenigen, sie sich als Gegner Russlands betrachten. Denn "es spielt keine Rolle, wie die NATO die Lage tatsächlich sieht oder was sie zu tun gedenkt. Für die nukleare Planung kommt es nur darauf an, wie Russland die Lage sieht".