Mindestlohnbericht 2020: Lohnuntergrenze in Deutschland ist armutsgefährdend

In der stärksten Volkswirtschaft Europas liegt der Mindestlohn deutlich unter dem westeuropäischen Niveau, wie das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung jüngst feststellte. Dabei wird dieser sogar noch häufig von Arbeitgebern unterwandert.

Nach einer Erhöhung um ganze 16 Cent gegenüber dem Vorjahr beträgt der gesetzliche Mindestlohn im Jahr 2020 hierzulande 9,35 Euro. Damit liegt die nominelle Lohnuntergrenze in der volkswirtschaftlichen Dampflok Europas nur an siebter Stelle von nicht einmal allen westeuropäischen Ländern und schneidet so weiterhin im Vergleich sehr schlecht ab. Das stellte das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung im diesjährigen Mindestlohnreport fest. Es hat 22 EU-Länder, in denen es einen nationalen Mindestlohn gibt, verglichen. Dänemark und Schweden sind beispielsweise nicht enthalten, auch in Österreich existiert kein gesetzlicher Mindestlohn, sondern eine tarifvertragliche Mindestlohnnorm.

Deutschland steht demnach aktuell weit hinter dem Spitzenreiter Luxemburg, aber auch hinter Frankreich und den anderen Beneluxstaaten sowie Irland und Großbritannien, das inzwischen aus der EU ausgetreten ist. Innerhalb der ersten drei großen Ländergruppen, die das WSI identifiziert, bestehend aus sieben westeuropäischen Industrieländern, nimmt Deutschland spätestens im April den letzten Platz ein, wenn Großbritannien, das derzeit mit Deutschland auf Platz sechs liegt, den Mindestlohn auf 9,93 Euro erhöht. Die zweite Gruppe im relativen Mittel des Mindestlohnniveaus in Europa umfasst nur Malta, Slowenien und Spanien. Die dritte Gruppe mit Mindestlöhnen unterhalb der Vier-Euro-Schwelle ist die weitaus größte, in der ein Dutzend EU-Staaten gelistet werden. Angeführt wird diese von Portugal, Schlusslicht ist Bulgarien mit 1,87 Euro.

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In Deutschland wird der gesetzliche Mindestlohn laut Mindestlohngesetz alle zwei Jahre neu festgelegt. Mit einer Erhöhung von gerade einmal 1,7 Prozent liegt Deutschland allerdings deutlich unter der Lohnuntergrenze der 21 EU-Staaten, die eine solche haben, und Großbritanniens. Hier wurde die Untergrenze zuletzt um sechs Prozent angehoben.

Tarifexperte Thorsten Schulten, der maßgeblich an der Auswertung der Daten beteiligt war, sagte der Deutschen Presse-Agentur: 

Deutschland hat den Mindestlohn erst ziemlich spät und auf relativ niedrigem Niveau eingeführt. Das ist immer noch das Ergebnis dieser Entwicklung.

Bereinigt um den Effekt der Inflation stieg der Mindestlohn hierzulande nur um 0,3 Prozent.

Mit Blick auf die Kaufkraft des jeweiligen Mindestlohns, also das Verhältnis von Löhnen und Preisen, relativiert sich das Bild etwas, da einige Länder mit hohen Mindestlöhnen auch ein höheres Preisniveau haben. So würden in der ersten Ländergruppe nach der Kaufkraftbereinigung die Länder Belgien, Großbritannien und Irland aufgrund der höheren Lebenshaltungskosten hinter das Schlusslicht Deutschland fallen.

Susanne Ferschl, stellvertretende Vorsitzende der Fraktion Die Linke, bezeichnet den Mindestlohn in Deutschland als "Mangellohn" und verweist darauf, dass so die Löhne in ganz Europa gedrückt werden. Die Linke fordert eine Erhöhung auf mindestens zwölf Euro. Der Wettbewerb zwischen Unternehmen und Staaten müsse über die Produkte und nicht über Löhne, Arbeits- und Sozialstandards ausgetragen werden.

Bei den Löhnen, Arbeits- und Sozialstandards sollten wir als stärkste Wirtschaft im Euroraum Vorreiter sein.

In der Tat ist der hiesige Mindestlohn auch Experten zufolge armutsgefährdend. Bereits eine Lohnuntergrenze unter 60 Prozent des mittleren Lohns eines Landes gehöre dazu. Nach Berechnung der WSI-Studie liegt Deutschland mit seinem Mindestlohn zurzeit bei gerade einmal 46 Prozent des mittleren Lohns.

Auch bereinigt um die Kaufkraft ist hierzulande das Lohnniveau zu niedrig. Denn spätestens im Alter droht dauerhaften Mindestlohnbeziehern die Armut. Um eine Rente über dem Niveau der Grundsicherung zu beziehen, müssten die Menschen mehr als 40 Jahre durchgehend arbeiten und dabei weitaus mehr als zehn Euro pro Stunde verdienen. Das stellte eine Arbeitsgruppe der Unionsfraktion im Bundestag fest. 

Statt den Mindestlohn anzuheben, soll unter anderem das Rentenalter "an die steigende Lebenserwartung gekoppelt", also angehoben werden, lautet einer der Vorschläge der Unionspolitiker. Außerdem soll die eigene Vorsorge durch Betriebsrenten und private Absicherung gestärkt werden – durch "mehr Anreize und auch mehr verpflichtende Elemente". Dies sollen Vorschläge sein, die nach Wunsch der Fraktion in die Arbeit der Rentenkommission einfließen sollen. Koalitionspartner SPD stellt sich bisher gegen eine Erhöhung des Rentenalters.

Doch abgesehen davon, dass der Mindestlohn zu niedrig ist, um in Würde zu leben und zu altern, erhalten laut einer Analyse des DIW beinahe vier Millionen Beschäftigte nicht einmal die rund neun Euro, weil Arbeitgeber vielerorts mit unterschiedlichen Tricks den Mindestlohn noch unterwandern. Ende Januar hat der für die Überprüfung der Einhaltung zuständige Zoll 185 Ermittlungsverfahren gegen verschiedene Arbeitgeber eingeleitet. Zu den festgestellten Verstößen gehören etwa nicht gezahlte Sozialversicherungsbeiträge, Beschäftigungen ohne Arbeitserlaubnis oder eine nicht ordnungsgemäße Zahlung des Mindestlohns. In über 1.800 Fällen sind nach Angaben des Zolls noch weitere Fragen zu klären. 
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Optimistisch heißt es in dem Bericht, dass 2020 das Jahr des Mindestlohns in Europa werden könnte. Denn die Europäische Kommission hat zum ersten Mal die Initiative für eine europäische Mindestlohnpolitik ergriffen, um überall in Europa "gerechte", also armutsfeste und existenzsichernde Mindestlöhne durchzusetzen. Dabei geht es nicht um einen einheitlichen Lohn, da die Lebenshaltungskosten in den Mitgliedsstaaten sehr unterschiedlich sind. Die jeweiligen Mindestlöhne innerhalb der Europäischen Union weisen laut dem WSI-Bericht eine erhebliche Spannweite auf, die von nur 1,87 Euro pro Stunde in Bulgarien bis zu 12,38 Euro in Luxemburg reicht.

Stattdessen könnte es aber auf verbindliche Standards hinauslaufen.

Eine EU-weite Anpassung könnte zu einer erheblichen Erhöhung der Löhne führen", meint Schulten.

Auf Deutschland berechnet würde das etwa zu einem Mindestlohn von zwölf Euro führen, wie ihn etwa die SPD und Gewerkschaften fordern.

Außerhalb Europas ist laut dem Bericht der niedrige Mindestlohn in den USA außergewöhnlich, der nach Bereinigung um Kaufkraftunterschiede auf dem Niveau Litauens liegt und damit hinter das Niveau Koreas zurückfällt.

In Russland, wo der nationale Mindestlohn derzeit bei knapp unter einem Euro liegt, es aber auf regionaler und lokaler Ebene eine Reihe von weiteren Mindestlöhnen gibt, die deutlich höher sind, will Präsident Putin im Rahmen der Verfassungsänderung eine Garantie von Mindestlöhnen und -renten im Grundgesetz festschreiben. Die Verfassungsänderung soll erst nach einer Volksabstimmung in Kraft treten, sagte er bei einem Treffen mit der Arbeitsgruppe zur Änderung der Verfassung.

Ich möchte, dass dies ein echtes Plebiszit wird, damit die Bürger Russlands die Autoren dieser Änderungen sind", sagte er.

Im Fall einer Ablehnung werde die Verfassung nicht geändert. Der Tag der Abstimmung werde arbeitsfrei sein und wie eine Präsidentenwahl organisiert, sagte er. Diskutiert wird der 22. April. 

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