von Susan Bonath
Abgestürzt, obdachlos und ein Staat, der zusieht: Die zunehmenden sozialen Verwerfungen treffen die Schwächsten zuerst und besonders hart. Offenbar landen in Deutschland immer mehr Jugendliche auf der Straße, weil sie nicht mithalten können und keine wohlhabenden Eltern hinter sich wissen. 2019 haben wir für 740 junge Menschen eine Unterkunft gefunden, das waren so viele wie noch nie", meldete am Dienstag die Stiftung Off Road Kids, die sich um wohnungslose Minderjährige und junge Erwachsene kümmert.
Demnach hat sich die Anzahl der Betroffenen, denen die Stiftung mit Onlineberatungen und über ihre Streetwork-Stationen geholfen hat, damit binnen Jahresfrist fast verdoppelt. So hatten die Mitarbeiter von Off Road Kids im Jahr 2018 rund 400 Jugendliche von der Straße geholt.
Tatsächlich habe die Stiftung bundesweit aber mehr als 9.000 Beratungsgespräche mit jungen Menschen geführt, die kein eigenes Dach über dem Kopf hatten oder von Obdachlosigkeit bedroht waren. In über 6.500 Fällen habe es sich dabei um Straßenkinder oder jugendliche Obdachlose gehandelt, teilte Markus Seidel, Vorstandssprecher der Stiftung, mit.
Karitatives Engagement statt staatlicher Hilfe
Teilweise sei die Zunahme einer vermehrten Onlinearbeit geschuldet, erklärte Seidel. Er spricht von "virtuellen Streetwork-Stationen". Mehr als die Hälfte der Betroffenen habe sich über diesen Weg Hilfe gesucht. Die Stiftung habe dieses Angebot 2017 ausgebaut, da die digitale Kommunikation zugenommen habe und, falls Ängste bestehen, gegebenenfalls mehr Anonymität zulasse.
"Unser Ziel ist es, junge Menschen frühzeitig vor dem Absturz in die Obdachlosigkeit zu bewahren", sagte Seidel. Viele Jugendliche seien aus Gründen von zu Hause weggelaufen. Sie kämen häufig noch bei unterschiedlichen Bekannten unter, gingen aber häufig nicht mehr zur Schule und liefen Gefahr, sich vollständig zu entkoppeln. Deshalb habe die Stiftung ihr Onlineberatungsangebot "Sofahopper" genannt.
Zwar werde das Projekt mittlerweile auch vom Bundesfamilienministerium finanziell unterstützt, so Seidel. "Dennoch benötigt Off Road Kids vor allem Spenden." Vor allem ein Problem trübe die Arbeit gegen Jugendobdachlosigkeit: Die weitere Verknappung des Wohnraums sowie der Geldmangel für zusätzliches Personal. "Wir wollen erreichen, dass kein junger Mensch in Deutschland auf der Straße leben muss. Dafür benötigen wir zusätzliche Mittel."
Nach eigenen Angaben holte die Stiftung seit ihrer Gründung 1993 gut 6.000 Jugendliche von der Straße. Seither nahm die Zahl der Hilfesuchenden kontinuierlich zu. Genaue Zahlen über Straßenkinder und -jugendliche in Deutschland gibt es aber nicht. Im Jahr 2017 schätzte das Deutsche Jugendinstitut, dass etwa 37.000 unter 25-Jährige davon betroffen sein könnten – Tendenz steigend.
Hilfen abrupt eingestellt: Vom Kinderheim auf die Straße
Der Berliner Verein Karuna veranstaltete bereits mehrfach eine bundesweite "Konferenz für Straßen- und Flüchtlingskinder" mit. Im November 2019 fand diese zum fünften Mal, diesmal in Leipzig, statt. Bundesdeutsche Familienministerinnen hatten mehrfach schöne Worte und Versprechungen dazu beigesteuert, wie beispielsweise 2014 Manuela Schwesig (SPD). Viel Konkretes kam aber dabei nicht herum. Und die Situation wird immer dramatischer.
Im Gespräch mit der Autorin im Jahr 2015 nannte Karuna-Sprecher und Sozialarbeiter Jörg Richert vor einigen Jahren auch politische Gründe, die dazu betrügen. So schafften insbesondere Heimkinder häufig nicht den Sprung in das Leben. "Die Jugendlichen werden viel zu früh in Wohnungen gesteckt und verselbständigt, dann endet die Hilfe oft abrupt an ihrem 18. Geburtstag", sagte er damals. Die Betroffenen hätten von heute auf morgen keinen Ansprechpartner mehr.
Eigentlich müsste das Jugendhilfesystem bis zum 25. Geburtstag im Notfall greifen. Die Kommunen als Träger sind aber meist unterfinanziert. Wenn überhaupt, würden sie oft nur auf großen Druck helfen. Die Jugendlichen, so der Sozialarbeiter, seien aber mit der Bürokratie vollkommen überfordert.
"So krank, dass ich eigentlich den Arzt holen müsste"
Hinzu kämen oft traumatische Kindheitserfahrungen, die viele Heimkinder mit sich herumtrügen. Doch für die Jugendämter seien sie eine Nummer und müssten funktionieren. Die Behörden erstellten für sie Hilfepläne, die vollgepackt seien mit Auflagen. "Allein in Berlin werden jedes Jahr etwa 400 Minderjährige von Hilfseinrichtungen mit ihrer gesamten Habe in einer Mülltüte auf die Straße gesetzt, weil sie die verlangten Normen nicht erfüllen", erklärte Richert. Dabei seien viele psychisch aber gar nicht dazu imstande.
Die Folgen schilderte der Sozialarbeiter drastisch: "Sie sind nicht krankenversichert, leben vom Betteln, vom Verkauf von Obdachlosenzeitungen oder von Diebstählen." In Berlin sehe er oft Jugendliche auf der Straße "in einem so schlechten Gesundheitszustand, dass ich eigentlich den Arzt holen müsste".
Das Problem der mangelnden Nachbetreuung von Heimkindern hatte auch die Stiftung Off Road Kids vor zwei Jahren bemängelt. Die Jugendämter stünden finanziell und personell "am Abgrund", so Markus Seidel damals. Die Landkreise und Städte verweigerten die Hilfe dann und betrieben "eine Sparpolitik auf Kosten der Jugendlichen".
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