"Lieber Präsident Putin, Hitler und Stalin haben sich zusammengetan, um den Zweiten Weltkrieg zu beginnen. Das ist eine Tatsache. Polen war Opfer dieses schrecklichen Konflikts",
twitterte die US-Botschafterin in Polen Georgette Mosbacher am Montag sowohl auf Englisch als auch auf Polnisch – was darauf hindeutet, dass ihre Aussage zur "Verschwörung" eher für den heimischen Gebrauch als für das russische Staatsoberhaupt bestimmt war.
"Verehrte Botschafterin, glauben Sie wirklich, dass Sie von Geschichte mehr Ahnung haben als von Diplomatie?", erwiderte die russische Botschaft in Warschau auf Englisch. Dies bezog sich sehr wahrscheinlich auf die Tatsache, dass Mosbacher früher Geschäftsführerin eines Kosmetikunternehmens war, bevor Präsident Barack Obama sie 2015 in eine diplomatische Kommission berief. Im September 2018 wurde sie von Präsident Donald Trump dann nach Warschau geschickt.
Innerhalb von lediglich einer Stunde hielt es niemand anderes als der deutsche Gesandte in Warschau für angebracht, die offizielle Position Berlins zu wiederholen, die – nicht überraschend – jene Polens und der USA eins zu eins widerspiegelte.
"Der Molotow-Ribbentrop-Pakt diente der Vorbereitung des verbrecherischen Einmarsches Nazi-Deutschlands in Polen. Die UdSSR war zusammen mit Deutschland an dieser brutalen Teilung Polens beteiligt", schrieb Botschafter Rolf Nikel auf Polnisch.
Der Nichtangriffspakt zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion von 1939 wird oft mit den Namen der jeweiligen Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow bezeichnet. Er wurde am 23. August unterzeichnet, nur eine Woche vor dem Einmarsch der Nazis in Polen – allerdings gab Hitler bereits spätestens Anfang April 1939 die Anweisung, den eigentlichen Überfallplan "Fall Weiß" so zu formulieren, dass er ab dem 1. September 1939 jederzeit ausführbar sei. Das Datum stand also fast ein halbes Jahr früher fest. Damit konnte der Nichtangriffspakt allein schon zeitlich kein Auslöser für den Zweiten Weltkrieg sein, macht Russlands Außenministerium klar.
Der berüchtigte Molotow-Ribbentrop-Pakt vom 23. August 1939 war nicht der Auslöser für den Zweiten Weltkrieg. Das Datum für den Angriff auf Polen, der 1. September, wurde von Hitler persönlich in der Anweisung "Fall Weiß" am 10. April 1939 festgelegt.
Im Westen verschweigt man (hoffentlich) verschämt, dass die Sowjetunion das letzte Land in Europa war, das mit Hitlerdeutschland einen Nichtangriffspakt abschloss. Sowohl Großbritannien als auch Polen selbst hatten dies längst getan. Noch lieber wird vergessen, dass die Sowjetunion in den 1930er-Jahren mehrere erfolglose Versuche unternahm, mit den Westmächten ein Verteidigungsabkommen mit Sicherheitsgarantien gegen Hitlerdeutschland abzuschließen, erinnert Russlands Auswärtiges Amt.
Am 17. April 1939 schlug die Sowjetunion ein weiteres Mal vor, ein umfassendes Abkommen mit Sicherheitsgarantien zu unterzeichnen. Dieser Vorschlag wurde von den westlichen Partnern der Sowjetunion abgelehnt und von den Staaten im Baltikum abgeschmettert – weil diese eine Mitwirkung an jeglichen Plänen gegen Deutschland kategorisch verweigerten.
Das heutige Warschau argumentiert – und die USA sowie die gesamte offizielle EU pflichten dem nur allzu gern bei –, dass dies den Zweiten Weltkrieg verursacht habe und dass die Sowjetunion genauso wie die Nazis am Überfall auf Polen schuld sei, auch weil ihre Truppen am 17. September aus dem Osten einmarschiert sind. Dabei wird allerdings gern vergessen, dass die Wehrmacht Polen zu diesem Zeitpunkt dermaßen gründlich zerschlagen hatte, dass dort weder eine aktive Regierung noch ein funktionierendes Militär existierte. Die Rote Armee machte an der Curzon-Linie halt, nachdem sie die zuvor von Polen unrechtmäßig okkupierten Gebiete der Ukraine und Weißrusslands befreit und wieder in die Sowjetunion eingegliedert hatte. Deutschland fiel dann weniger als zwei Jahre später in die Sowjetunion ein.
Während im heutigen Russland ein großer Teil des Vermächtnisses der Sowjetunion häufig abgelehnt und verurteilt wird, ist ihre überwältigende Rolle beim Sieg über Nazi-Deutschland im Zweiten Weltkrieg für Moskau eine rote Linie – und eine Geschichtsrevision, die eine moralische Gleichwertigkeit des Dritten Reichs und der UdSSR behauptet, einfach nicht akzeptabel. Genau das erklärte der russische Botschafter in Warschau seinen Gastgebern, als er beim letzten Aufflammen des schwelenden Streits am Freitag einbestelt wurde.
In Warschau war man zuvor wegen der Äußerungen Putins über den polnischen Botschafter in Berlin (1934–1939) Józef Lipski, den der russische Präsident in der vergangenen Woche als "Bastard und antisemitisches Schwein" bezeichnete, ziemlich beleidigt. Die Aussage des russischen Präsidenten basiert auf Lipskis eigenen Worten aus dem Jahr 1938: Der Gesandte erklärte Hitler, dass die Polen ihm "ein schönes Denkmal in Warschau errichten" würden, wenn er nur seinen Plan zur Vertreibung der europäischen Juden nach Afrika durchführe.
Auch auf der Münchner Konferenz im selben Jahr fand sich Polen im Tross Nazi-Deutschlands bei der Zerstückelung der Tschechoslowakei. Zu dieser Zerstückelung erklärten sich übrigens auch Großbritannien und Frankreich bereit, um Hitler zu besänftigen, obwohl ihnen ein Angebot der Sowjetunion zu Sicherheitsgarantien für Prag vorlag – oder vielleicht gerade deswegen.
Lipskis Äußerungen sind Inhalt öffentlich zugänglicher, verifizierter Aufzeichnungen, und niemand kann ihre Glaubwürdigkeit ernsthaft bestreiten; deshalb beziehen weder Warschau noch seine NATO-Verbündeten Stellung dazu. Stattdessen werden polnische Schlagwörter im Dienste des sehr modischen Narrativs eines "aggressiven" Russlands nachgeplappert.
Die Verhaltensweise Polens ist leicht zu erklären. Sowjetische Truppen befreiten Polen 1944 von den Nazis und setzten nach dem Krieg in Warschau eine prokommunistische Regierung ein. Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wurde Warschau jedoch von einem Verbündeten Moskaus zu einem Handlanger Washingtons – und begann sofort, einem überaus fragwürdigen Geschichtsrevisionismus zu frönen, um so die Vergangenheit besser mit der Gegenwart in Einklang zu bringen.
Darin ist der Grund zu suchen, dass sich ausgerechnet die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel als Ehrengast auf der Gedenkfeier zum 80. Jahrestag des Kriegsausbruchs am 1. September wiederfand, während Russlands Präsident Putin nicht einmal eingeladen wurde. Eine weitaus größere Beleidigung ist jedoch die Entscheidung, den russischen Präsidenten nicht am bevorstehenden 27. Januar einzuladen, dem Jahrestag der Befreiung von Auschwitz durch die 1. Ukrainische Front der Roten Armee.
Eine interessantere Frage ist allerdings, warum sich zur ersten europäischen Handpuppe nicht nur eine weitere Handpuppe, sondern gleich auch der US-Puppenspieler selbst gesellt. Liefert ein weiterer Tweet des russischen Außenministeriums vielleicht eine Antwort?
Gleichzeitig wurde Hitlers Kriegsmaschinerie mit Hilfe führender US-Konzerne wie General Electric und General Motors, Ford und anderen aufgebaut. Der pronazistische Deutsch-Amerikanische Bund konnte Hitlers Ansichten in den USA der Vorkriegsjahre ungehindert propagieren.
Mit Sicherheit dient also die US-Unterstützung für Polen in dieser Sache dazu, vom eigenen unschönen Verhalten in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg abzulenken. Eine geschichtliche Parallele lässt sich aber ebenfalls ziehen: Was damals Hitlerdeutschland war – als Bollwerk gegen den Kommunismus verstanden und erst mithilfe der US-Konzerne aufgebaut, anschließend mit Ressourcen mehrerer, allzu rasch unterworfener, europäischer Industrieländer zusätzlich aufgerüstet –, das ist heute Polen, das als Truppensammelplatz der NATO Ausgangspunkt für einen weiteren paneuropäischen Überfall auf Russland werden könnte.
Die Frage des russischen Außenministeriums, warum die USA jedes Jahr als beinahe einziger Staat gegen UN-Resolutionen zur Bekämpfung der Faschismusverherrlichung stimmen bzw. Veto einlegen, ist da eigentlich nur als eine rhetorische zu verstehen.
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