Wir sprachen mit Dr. Adolf Eser, dem ehemaligen Generaldirektor des Chemiekombinats Bitterfeld und Autor des Buches "Von Alaun bis Zitronensäure", in dem er die Geschichte der Chemieindustrie – mit seinem Fokus auf den Bitterfelder Raum – darstellt. Das Gespräch führte Hasan Posdnjakow. (Den ersten Teil finden Sie hier.)
Sie waren viele Jahre verantwortlich für einen Großbetrieb der chemischen Industrie in der DDR. Welche Spielräume hatten Wirtschaftsfunktionäre in der DDR bei der Leitung ihres Betriebes – waren die Vorgaben der staatlichen Planung sehr eng oder gab es Raum für Initiativen "von unten"?
Die Vorgaben der SPK (Staatlichen Plankommission) entsprachen den volkswirtschaftlichen Erfordernissen für das Wachstum der Volkswirtschaft als Ganzes (also der Industrie, Landwirtschaft, Versorgung der Bevölkerung, der Handelsbeziehungen usw.). Dazu gab es Staatsplanvorgaben, deren mengen- und wertmäßige Erfüllung unbedingte Pflicht war. Sicher gab es auch Kennziffernvorgaben, die sich variieren ließen (hinsichtlich Mengen, Kosten, Gewinne), die von der Plankommission nicht vorgegeben werden konnten. Dadurch gab es auch Vorgaben, die Raum für Initiativen, etwa neue Erzeugnisse, boten. Den wesentlich größeren Einfluß auf das Plangeschehen, also seine Umsetzung, hatte das uns unmittelbar vorgeschaltete Ministerium für Chemische Industrie der DDR.
Wie gestalteten sich die Verhandlungen über Planziele? Welchen Input konnten die Betriebe vor Ort an zentrale Stellen geben? Wurden ihre Informationen in ausreichendem Maße von der Plankommission berücksichtigt?
Die Planvorgaben erfolgten bei uns nicht durch die SPK, sondern durch das unmittelbar zuständige, übergeordnete Ministerium für Chemische Industrie. Diese Vorgaben wurden entsprechend der Produktionsstruktur der Betriebe aufgeschlüsselt, deren Leiter auf der Grundlage der vorhandenen Produktionsbedingungen (anhand von Kriterien wie verfügbare Kapazitäten, Rohstoffe und Arbeitskräfte) die Realisierbarkeit, ihre Bedingungen usw. der Belegschaft zur Plandiskussion unterbreiteten. An diesen Plandiskussionen nahmen häufig die Direktoren, Vertreter der Gewerkschaft (bei uns die IG Chemie, Glas und Keramik) und des genannten Ministeriums teil. Vorschläge aus der Belegschaft, die zielführend waren, waren uns immer willkommen. Planverhandlungen etwa wie auf einem Basar habe ich aber nie erlebt.
Wie war die Lage der Beschäftigten in der DDR? Bundesdeutsche Politiker loben häufig die hiesige betriebliche Mitbestimmung und soziale Marktwirtschaft als vorbildliches Modell für das Ausland. Welchen Einfluss konnten die einfachen Mitarbeiter in Betrieben der DDR auf wirtschaftliche Entscheidungen ausüben? Wie waren die Arbeitsbedingungen und die Sozialgesetzgebung?
In der DDR gab es – im Gegensatz zur BRD – seit dem 19. Juni 1966 ein Gesetzbuch der Arbeit, in dem – zusätzlich zur DDR-Verfassung (Artikel 19ff.) – detaillierter die Rechte und Pflichten der Werktätigen (1. Artikel), die Mitwirkung der Werktätigen bei der Leitung der Betriebe (Kapitel 2), die besonderen Rechte der werktätigen Frauen und Mütter (Kapitel 11) und die arbeitsrechtliche Verantwortung der Werktätigen geregelt waren. Ausdruck der Mitwirkung unserer Belegschaften (Mitbestimmung) waren z.B. jährlich etwa 3.000 bis 4.000 Neuerervereinbarungen oder Neuerervorschläge aus der Belegschaft, die auch realisiert und vergütet wurden. In den produzierenden Betrieben und Werkstätten gab es monatliche Belegschaftsversammlungen sowie Arbeitsschutzbelehrungen durch Meister oder Betriebsleiter, in denen auch von der Belegschaft andere, sie betreffende Angelegenheiten zur Sprache gebracht werden konnten und zu entsprechenden Veränderungen geführt wurden, sofern erforderlich und möglich.
Auch im Chemiekombinat Bitterfeld waren immer sowohl objektive technisch-technologische Maßnahmen als auch erzieherische Maßnahmen zur Herausbildung und Festigung von speziellen Verhaltensweisen zur Vermeidung von Fehlfunktionen erforderlich und wirksam miteinander zu verbinden.
Der Unfallschutz und eine niedrigstmögliche Unfallquote waren Bestandteile von Wettbewerbsprogrammen der Arbeitskollektive, die von den Gewerkschaften organisiert und kontrolliert wurden und am Ende für die Höhe der Prämien der Arbeiter, Angestellten und Leiter mit ausschlaggebend waren. Dennoch gab es bisweilen aber auch Unfälle oder Explosionen mit verheerendem Ausgang (beim PVC, in der Leichtmetallgießerei u.a.), deren Ursachen (zu) oft nicht eindeutig aufgeklärt werden konnten und die manchmal auch Menschenleben kosteten. Im Jahr 1989 hatte der Stammbetrieb des Chemiekombinats Bitterfeld aber eine sinkende Unfallquote, so etwa im Jahr 1986 noch 14,4 Arbeitsunfälle je 1.000 Beschäftigte und im Jahr 1987 rund 13 Arbeitsunfälle je 1.000 Beschäftigte. Die überwiegende Zahl der Unfälle war aber nicht durch Einwirkung chemischer Noxen und anderer chemischer Einwirkungen oder als Folge technischer Instabilitäten (etwa dem Bau- und/oder dem Anlagenzustand geschuldet) entstanden. Die vielfach "reichere und modernere" chemische Industrie in den "alten Bundesländern" hatte selbst im Jahr 1999 noch eine Unfallquote von 21,9 Arbeitsunfällen je 1.000 Beschäftigte registriert.
Im Rahmen des RSM-Programmes (Anm.: Programm zur Rationalisierung, Stabilisierung und Modernisierung in der DDR) wurden auch die Arbeits- und Lebensbedingungen verbessert oder entsprechend den Vorschlägen aus den Belegschaften an die neuen Bedingungen der Betriebsführung angepasst. Das war notwendig infolge der fortschreitenden Automatisierung der Betriebsführung durch Prozessrechner, so waren im Jahr 1989 240 Rechner zur Produktionssteuerung und Prozessautomatisierung eingesetzt, z.B. gegen gefährliche Monotonie in Nachtschichten. Dem diente etwa auch die geeignete Gestaltung der Pausenräume, sogar im Zusammenwirken mit künstlerischen Mal- und Keramikzirkeln und weitere ähnliche Maßnahmen. Die Produktivität entwickelte sich – nicht zuletzt auch durch EDV und Rechentechnikanwendung in Produktion und Verwaltung – im Verlaufe der Jahre von 79.084 DDR-Mark im Jahr 1970 bis zu 273.137 DDR-Mark je Beschäftigtem im Jahr 1990.
Einige marxistische Theoretiker haben das angeblich zu unflexible Wirtschaftssystem in der Sowjetunion und in den anderen osteuropäischen sozialistischen Staaten dafür kritisiert, dass es das Wertgesetz (langfristig) missachtet hätte. Wie stehen Sie zu dieser Kritik am sowjetischen Sozialismusmodell?
Darüber habe ich zu wenige Kenntnisse. Aber sowjetische Wissenschaftler (z.B. Baranauskas) hatten schon in den 1970er und 1980er Jahren darauf verwiesen, dass die Wertkennziffer "Arbeitsproduktivität" alleine zur Beurteilung der Leistungen eines Wirtschaftssubjektes (Leistung in Währungseinheit je eingesetzter Arbeitskraft) nicht ausreicht, wenngleich damit die Kennziffer Arbeitsproduktivität nicht gänzlich ersetzt werden sollte. Es ging darum, wertmäßig das Verhältnis von Aufwand und Ergebnis als sogenanntes Nettoprodukt und das, was als EBIT bezeichnet nach Abzug aller Kosten und unter Berücksichtigung von außerordentlichen Gewinnen übrig bleibt, in der Abschlussbilanz besser vergleichbar darzustellen. Ich habe das Modell nach Baranauskas in meiner Dissertation und in der Gegenüberstellung der Leistungen der Bayer AG und des Chemiekombinates verwendet. Heute ist bei der Beurteilung der Leistungen eines Konzerns die Kennziffer EBIT üblich. Ich musste erkennen, dass die Konzernbilanzen ein wesentlich geringeres EBIT auswiesen als die volkseigenen Kombinate und Betriebe. Nur beide Kennziffern gemeinsam ermöglichen ein objektives Bild für die Leistung einer Wirtschaftseinheit.
Welche Ursachen hatten die – zumindest von Teilen der Bevölkerung so wahrgenommenen – zunehmenden wirtschaftlichen Probleme in der DDR ab den 1970er Jahren und wie wirkten sie sich auf die einzelnen Betriebe, auf deren Leitung und die Beschäftigten in der DDR aus?
Es tut mir leid. Ich kann Ihrer Fragestellung nicht folgen. Einer unserer Grundsätze lautete: "Jedes befriedigte erste Bedürfnis ist Quelle neuer Bedürfnisse". So wuchsen die Ansprüche der Menschen an individuellem Konsum. Wir haben uns oft gefragt, wo das noch hinführen soll, wenn die Leute Auto, Datsche, Hund, eigenes Haus usw. haben wollen. Autos und Motorräder, Mopeds usw. zu bauen, erforderte eben auch leistungsfähige eigene Kapazitäten, die erst geschaffen werden mussten. Ganz zu schweigen vom Ausbau der Straßennetze. Dennoch zeigt ein Vergleich DDR–BRD aus dem Jahr 1984, den das Bundesministerium für innerdeutsche Fragen in seinem Bericht zur Lage der Nation im Jahr 1987 publizierte, dass die DDR damals im Verbrauch pro Kopf der Bevölkerung bei sieben von zehn Hauptnahrungsmitteln vor der BRD lag und eben kein Mangel herrschte. So konsumierten die DDR-Bürger damals mehr Fleisch und Fleischerzeugnisse, Eier, Butter, Trinkmilch, Brotgetreidemehl, Gemüse und Zucker sowie Zuckererzeugnisse als die BRD-Bürger.
Ja, es gab Versorgungsprobleme – vor allem bei Südfrüchten, die nur zu Valuta zu bekommen waren, bei Konserven aus Bulgarien und Ungarn, auf die wir zur Versorgung angewiesen waren, weil unsere hocheffektive Landwirtschaft auf Grundnahrungsmittel ausgerichtet war, bei Autos bestimmter Marken aus dem NSW und der BRD, die entweder in Valuta zu bezahlen waren, sowie weitere Probleme. Dies alles war nicht lebensnotwendig und war auch – etwa wegen der einseitigen Währungsreform im Jahr 1946 – nicht ohne materielle Gegenleistungen von der DDR zu importieren. Die Erkenntnis, dass jedes befriedigte erste Bedürfnis neue Bedürfnisse schafft, wirkte auch bei uns. Je mehr schon man hat, umso mehr will man künftig haben. Das wirkte einerseits als Triebkraft, konnte aber beim besten Willen nicht immer sofort oder zeitnah erfüllt werden (Stichworte dazu: Währungsreform, Embargo, Alleinvertretungsanspruch der BRD usw.).
Wie erlebten Sie das Ende der DDR?
Den 7. Oktober 1989 erlebte ich als Leiter der Delegation des Bezirkes Halle zum Jahrestag in Ufa (Anm.: Hauptstadt der damaligen Baschkirischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik) völlig unbedarft von den Ereignissen in Berlin, von denen wir im fernen Ufa aus dem Neuen Deutschland erfuhren. Danach habe ich erleben müssen, wie die Diffamierung der fleißigen Arbeit unserer Belegschaft durch Westmedien immer weiter zunahm. Ich habe meine Kraft dafür eingesetzt, das Kombinat leistungsfähig zu erhalten und habe dazu auch an verschiedenen Veranstaltungen bei der Dresdner Bank in Hannover und bei der Welt mit dem damaligen Finanzminister der BRD, Theo Waigel, teilgenommen. In Ludwigshafen bei der BASF haben wir unsere Zusammenarbeit angeboten und so weiter. Am Karfreitag des Jahres 1990 bekam ich dann einen unschönen Brief, von 30 leitenden Mitarbeitern unterzeichnet, mit der Aufforderung, sofort zurückzutreten. O-Ton: "Man würde mich sonst fertigmachen,… dass kein Hund mehr ein Stück Brot von mir nähme".
Bis zur letztendlichen Kündigung an meinem 55. Geburtstag desselben Jahres 1990 habe ich gelebt wie ein aussätziger "Leprakranker", ohne Arbeitsplatz und ohne Aufgaben. Die hatte ich mir dann mit Mitarbeitern des Bereiches "Biotechnologie" selbst neu gesucht. Ziel war der Aufbau einer Produktionsanlage nebst Übernahme der vorhandenen Forschung und Pilotanlage zur Herstellung von synthetischer Zitronensäure nach einem eigenen Verfahren und mit einem patentierten Hefestamm mit der Firma Vogelbusch (Wien). Die Finanzierung und der Absatz waren gesichert. Meine "Nachfolger" haben auch dies schließlich durch Verweigerung der erforderlichen Flächen im Namen der sogenannten Treuhandanstalt verhindert.
Die Kündigung bekam ich – wie gesagt – zu meinem 55. Geburtstag. Danach habe ich mit einem guten Kollegen und einer existierenden Firma aus der Alt-BRD eine Anlagebaugesellschaft gegründet – unter dem Motto: Wo abgerissen wird, wird auch wieder aufgebaut. Das war ein Irrtum, weil die Anlagenbauer um die Firma UHDE Dortmund einfach privilegierter waren. Die erste Neuanlage auf dem Kombinatsgelände hat unsere junge Firma für AKZO Nobel mit aufgebaut. Weitere Aufträge waren im sogenannten Chemiepark durch uns nicht zu realisieren. Danach bin ich dann mit einer berüchtigten "Strafrente" in den Vorruhestand und mit 65 Jahren in die obligatorische Rente gegangen.