Der CDU-Kreisverband Leipzig hat sich in einem offenen Brief an die Parteivorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer gewandt. Der Brief unter der Überschrift "Leipziger Appell 2019 – Eine Aufforderung zum Verständnis ostdeutscher Sichtweisen" kann als Ausdruck der tiefsitzenden Unzufriedenheit in der Ost-CDU verstanden werden.
Die Unterzeichner, zu denen Abgeordnete des sächsischen Landtags und EU-Parlaments ebenso zählen wie der Erste Bürgermeister Leipzigs und der sächsische Justizminister, beklagen vor allem, dass ostdeutsche Sichtweisen in der Partei nicht berücksichtigt würden:
Immer weniger Bürgerinnen und Bürger in den neuen Bundesländern haben das Gefühl, mit ihrer Sicht auf unser Land, aber auch die internationale Gemeinschaft wahrgenommen und verstanden zu werden. Noch enttäuschender ist für viele aber, dass öffentliche, auch politische Reaktionen spezifisch ostdeutsche Erfahrungen und Überzeugungen abqualifizieren und zum Teil mit überheblicher Selbstgewissheit ablehnen.
Konkret geht es den Leipziger CDUlern um die außenpolitische Positionierung Deutschlands und das Verhältnis zu Russland. Sie beklagen, dass "altes Freund-Feind-Denken auch außenpolitische Positionen zu bestimmen" scheine. Dabei könne es ein Gewinn sein, "in der Vergangenheit sicher geglaubte Gewissheiten einer Prüfung zu unterziehen". Es sei kein Zeichen von Stärke, an alten Feindbildern festzuhalten:
Am Beispiel des Umgangs mit Russland wird dies besonders deutlich. Die zum Teil herablassende und pauschale Kritik am Dialog unseres sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer mit dem Präsidenten der Russischen Föderation ist aus Sicht vieler Ostdeutscher Ausdruck von Ignoranz ihrer oft sehr persönlichen Erfahrungen mit Russland und den dort lebenden Menschen.
Die Leipziger beziehen sich konkret auf die Aussagen Kramp-Karrenbauers in ihrer Rede vor der Atlantik-Brücke in der vergangenen Woche. In dieser hatte sie unter Verweis auf die persönlichen Erfahrungen ihres Vaters in der Kriegsgefangenschaft die deutsch-US-amerikanische Freundschaft betont und eine Äquidistanz Deutschlands zu den USA und Russland in klaren Worten abgelehnt:
Wenn Sie, sehr geehrte Frau Vorsitzende, ihre familiären Erfahrungen zum Maßstab des deutsch-amerikanischen Verhältnisses machen, muss dies im gleichen Maße für ostdeutsche Biografien gelten. Das sind etwa Erfahrungen ehemaliger deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, die von schlimmen Bedingungen in den Gefangenenlagern berichten, aber auch von ihren russischen Bewachern, einfachen Soldaten, deren existenzielle Situation sich nicht viel unterschied, die aber ihr weniges Brot noch mit Deutschen teilten. Oder Erfahrungen mit russischen Frauen und Männern, die nach den Verheerungen des von Deutschland ausgelösten Krieges ohne Hass und Groll die Hand zur Freundschaft ausgestreckt haben. Viele Lebenswege deutscher und russischer Ehepartner prägen ostdeutsche Biografien.
Viele Ostdeutsche seien enttäuscht, dass in den vergangenen Jahren keine Versuche unternommen wurden, Russland als Partner zu gewinnen. Vor allem sei es für sie nicht nachvollziehbar, warum es falsch sein soll, im Gespräch zu bleiben. Sanktionen bewegten nichts und träfen die falschen. Ihr Aufrechterhalten sei Ausdruck von Hilflosigkeit und Desinteresse:
Deshalb unterstützen auch wir die Forderung des sächsischen Ministerpräsidenten nach einem Ende der Sanktionen und nach intensiveren Bemühungen um Beilegung der Konflikte durch Aufeinanderzugehen und bitten Sie eindringlich um Reflektion dieser ostdeutschen Sicht.
Die Unterzeichner beklagen auch den anhaltenden wirtschaftlichen und sozialen Rückstand des Ostens. Die Vernachlässigung des Ostens habe zu einem enormen Anwachsen der Skepsis gegenüber der Union geführt. Auch die "unbürokratischen" Entscheidungen in Euro- und Flüchtlingspolitik hätten die Menschen entfremdet.
Der als unkontrolliert wahrgenommene Zustrom hunderttausender Flüchtlinge, die zum Teil unregistriert und unkontrolliert einreisten, löste in der Bevölkerung große Verunsicherung aus. Bis heute warten viele Ostdeutsche auf Antworten zu den Ereignissen im Jahr 2015.
Vor diesem Hintergrund fordert die Leipziger CDU einen grundlegenden und umfassenden Richtungswechsel ihrer Partei:
Umfassende Korrekturen bundespolitischer Entscheidungen zurück zu ihrem früheren Verständnis von Recht, Ordnung, Sicherheit, sozialer Verantwortung, wirtschaftlicher Freiheit und Bewahrung unserer Schöpfung sind erforderlich, einhergehend mit einer inhaltlichen und strategischen Kursänderung der Partei.
Die sächsischen CDUler werden bald Gelegenheit haben, diese und weitere Fragen mit Kramp-Karrenbauer persönlich zu besprechen. Die unter wachsendem Druck stehende Vorsitzende soll am 16. Juli zu einem Treffen mit den Kreisvorsitzenden nach Sachsen kommen.
Mehr zum Thema - Kramp-Karrenbauer bei der Atlantik-Brücke: Bekenntnisse zu den USA und "gemeinsamen Werten"