Dass Ursula von der Leyen ihren Meinungsartikel in der New York Times veröffentlichen ließ, ist kein Zufall. Ihre leidenschaftliche Verteidigung der NATO galt der US-Regierung und deren Berater, nachdem berichtet wurde, dass Präsident Donald Trump im vergangenen Jahr mehrmals mit seinen Beratern darüber sprach, aus der Allianz auszusteigen.
Dass von der Leyen nur vier Tage nach Erscheinen dieser Meldung darauf reagierte, zeigt, wie groß die Unsicherheit hierzulande ist. Und wie ernst man Trumps Abneigung gegen multilaterale Abkommen nimmt, die er in den vergangenen zwei Jahren immer wieder unter Beweis gestellt hat. Den offiziellen Bekundungen, wie zuletzt, als der US-Präsident gesagt hatte, dass die USA "zu hundert Prozent" hinter der NATO stehen, wird offensichtlich nur wenig Glauben geschenkt.
Unsicherheit über die Unberechenbarkeit – oder ist es gerade die Berechenbarkeit? – des Amtsinhabers im Oval Office ist eine Sache, eine ganz andere Sache ist aber die Sprache, die die deutsche Verteidigungsministerin in ihrem Meinungsartikel benutzt. Schon im Titel macht Ursula von der Leyen klar, worum es ihr geht: "The World Still Needs NATO". Die Welt braucht die NATO also noch immer, vor allem, um die "Weltordnung zu verteidigen". Denn diese würde von "Akteuren" wie Russland und China, von "autoritären Regimen, die Nuklearwaffen entwickeln" (ein offenkundiger Seitenhieb in Richtung Iran) untergraben, ja sie würden "sogar die Regeln, die das Zeitalter der Demokratie und Prosperität seit dem Zweiten Weltkrieg regiert haben", verändern wollen.
Was bei von der Leyens Meinungsartikel auffällt, ist ihre Ehrlichkeit. Die Masken der freundlichen Floskeln sind gefallen, Deutschland hatte sich entschieden, dem US-Diktat entgegen der nationalen Interessen auf Gedeih und Verderb zu folgen. Gute Beziehungen in wirtschaftlicher wie auch politischer Hinsicht zu Russland, dem Iran und nun sogar auch zu China werden als etwas Negatives dargestellt. Die Verteidigungsministerin spricht in der New York Times von nichts Geringerem als einer "russischen Aggression in Osteuropa", "Russlands Invasion der Ukraine" oder "Chinas Anmaßung im Südchinesischen Meer". Die deutsche Regierung hat den US-Duktus vollkommen übernommen, ihn zu ihrem eigenen gemacht.
Das ist wenigstens ehrlich. Ebenso wie die Bestätigung, dass die NATO "auch eine politische Allianz" ist. Das ist im Kern nichts Neues, aber es wurde stets darauf geachtet, das Offensichtliche nicht zu sehr zu betonen. Dabei wurde diese Entwicklung bereits 1967 eingeleitet, als mit dem sogenannten Harmel Report auch eine politische Rolle für das transatlantische Militärbündnis vereinbart wurde. Damit wurde lediglich das auf Papier gebracht und institutionalisiert, was ohnehin schon seit der Gründung der NATO 1949 vorgelebt wurde. Es war eben nicht bloß ein reines militärisches Verteidigungsbündnis, sondern auch ein Forum, in dessen Rahmen politische Entscheidungen gefällt wurden.
Zuletzt konnte man diesen politischen Prozess beim NATO-Gipfel 2014 in Wales beobachten, als nach einigen Jahren der versuchten besseren Zusammenarbeit mit Russland das alte Freund-Feind-Schema aufgrund der Ukraine-Krise wieder ausgegraben wurde. Deutschland versuchte seitdem den Spagat, auf der einen Seite den Verpflichtungen gegenüber der NATO nachzukommen und auf der anderen Seite zumindest den Anschein zu wahren, dass eine Verständigung zwischen Berlin und Moskau möglich wäre. Auch hier hat Ursula von der Leyen endgültig klar Stellung bezogen und ging mit dem Vorwurf der "russischen Aggression in Osteuropa" noch einen Schritt weiter.
Warum sie das tut, liegt auf der Hand: Berlin hat auf eine Seite gesetzt, die plötzlich wankelmütig geworden ist und die bis jetzt als gegeben angenommene Sicherheit eventuell nicht mehr vorhanden sein könnte. Das ist der Grund für die empfundene Unsicherheit und die regelrechte Anbiederung an die US-Regierung. Die deutsche Ministerin spricht von "spürbaren Resultaten", wenn es um eine der zentralen Forderungen von Donald Trump geht, die Erhöhung der Verteidigungsausgaben. So habe der "deutsche Verteidigungsetat zum Beispiel um 36 Prozent zugenommen, seit ich das Amt Ende 2013 übernommen habe", schreibt von der Leyen. Und Deutschland ist bereit, "mehr zu tun", fügte sie noch hinzu.
Zur großen Charmeoffensive holte Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen aber erst noch aus:
Vor allem ist die NATO nicht nur dem Namen nach eine transatlantische Organisation. Sie repräsentiert besondere, sogar emotionale Bande zwischen dem amerikanischen und europäischen Kontinent. Für einen Deutschen sind die Bilder vom Fall der Berliner Mauer untrennbar mit der Allianz verbunden, und mein Land ist ganz besonders dankbar für die Sicherheit und die Möglichkeiten, die die NATO seit Jahrzehnten bietet. Also ja, zusätzlich zu den praktischen Vorteilen von Stützpunkten, Strukturen und Truppen hat die NATO einen Wert an und für sich.
"Für einen Deutschen sind die Bilder vom Fall der Berliner Bauer untrennbar mit der Allianz verbunden"? Dafür, dass dieses historische Ereignis am 9. November 2019 seinen 30. Jahrestag feiert, scheint die Verteidigungsministerin der Bundesrepublik Deutschland eine bemerkenswerte Interpretation der Ereignisse zu haben. Mit keinem Wort wird die friedliche Revolution in der DDR oder die Rolle der Sowjetunion erwähnt, die den Fall der Mauer erst ermöglicht hatte. Und hatte nicht US-Präsident Ronald Reagan bei seinem Besuch am 12. Juni 1987 am Brandenburger Tor in Berlin seine berühmten zwei Sätze an den sowjetischen Generalsekretär Michail Gorbatschow gerichtet?
Indem sie solche Lobeshymnen an die NATO hält, versucht die Verteidigungsministerin, dem US-Präsidenten zu schmeicheln und ihn davon zu überzeugen, dass das wirtschaftlich stärkste und gerade deshalb am stärksten von Trump angegriffene Land Europas seinem Ruf folgen wird. Um dieses Ziel zu erreichen, ist Ursula von der Leyen offensichtlich bereit, sehr weit zu gehen.