von Susan Bonath
Die obersten deutschen Richter sollen entscheiden, ob die jährlich hunderttausendfach verhängten Kürzungen der als Existenzminimum deklarierten Leistungen gegen die Grundrechte auf Menschenwürde, körperliche Unversehrtheit und freie Berufswahl verstoßen.
Jugendliche und Ausländer besonders häufig sanktioniert
Kein Geld für Essen und Strom, der Vermieter droht mit Kündigung, Rechnungen bleiben liegen, Schulden häufen sich an – amtliche Hilfe ausgeschlossen: Dieses Szenario bedroht Hartz-IV-Bezieher permanent. Jedes Jahr verhängen deutsche Jobcenter fast eine Millionen Sanktionen gegen rund 420.000 Bedürftige.
Mehr als drei Viertel der Bestraften hatten 2017 und in den Vorjahren lediglich einen Termin verpasst. Der Rest konnte die geforderte Anzahl an Bewerbungen nicht nachweisen, brach eine Maßnahme ab, lehnte ein Arbeitsangebot ab oder verließ schlicht einmal unerlaubt den wohnortnahen Bereich – und wurde dabei entdeckt. Je nach Art der "Pflichtverletzung" kürzen die Ämter die Bezüge für drei Monate um zehn, 30, 60 oder 100 Prozent - also ganz und gar!
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Jugendlichen und jungen Erwachsenen (zwischen 15 und 24 Jahren) geht es besonders heftig an den Kragen. Ihnen droht bereits bei der ersten "Pflichtverletzung" diese Streichung des gesamten Regelsatzes. Beim zweiten Verstoß gegen eine Auflage entfällt auch der Mietzuschuss. Hier soll das BVerfG prüfen, ob dies gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstößt.
Empfänger unter 25 Jahren sind - ebenso wie Migranten und Flüchtlinge, welche stets unmittelbar nach Abschluss ihres Asylverfahrens Hartz IV unterliegen - überproportional von solch hohen Sanktionen betroffen. Beide Gruppen machen laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) jeweils ein Viertel aller Sanktionierten aus.
Sozialrichter: Leben und Gesundheit gefährdet
Bei Hartz IV gehe es um das ohnehin möglicherweise zu niedrig bemessene Existenzminimum, erklärte das Sozialgericht Gotha, als es im Mai 2015 das BVerfG anrief. Werde das Minimum gekürzt, sei ein menschenwürdiges Leben in der Bundesrepublik nicht mehr möglich, so die Thüringer Richter.
Denn Betroffene könnten mangels fehlender Rücklagen selbst absolute Grundbedürfnisse wie Nahrung, Wohnung und medizinische Versorgung meist nicht mehr sicherstellen. Dies führe schnell „zu einer Lebensgefährdung oder Beeinträchtigung der Gesundheit“, erklärten sie in ihrer Richtervorlage.
Dem zugrunde liegt ein konkreter Fall, bei dem das Jobcenter Erfurt einen jungen Mann zweimal hintereinander für jeweils drei Monate sanktioniert hatte. Weil er ein Arbeitsangebot des Amtes abgelehnt hatte, kürzte es ihm die Leistungen zunächst um 30 Prozent. Kurz darauf weigerte sich der Mann, unbezahlt "zur Probe" zu arbeiten. Die Behörde strich ihm 60 Prozent der Bezüge. Selbst wenn die Anschuldigungen stimmten, so das Gericht in Gotha, sei der Entzug des Existenzminimums völlig unverhältnismäßig.
Härter bestraft als Schwerverbrecher
Der Verein Tacheles ist eine von 19 Institutionen, die Karlsruhe bereits vor zwei Jahren um Stellungnahme gebeten hatte. Dieser und 13 weitere Einrichtungen hatten darin die Strafpraxis als ganz oder teilweise verfassungswidrig gewertet. Tacheles berief sich unter anderem auf ein Urteil BVerfG-Urteil aus dem Jahr 2010. Jeder Bürger habe demnach gegenüber dem Staat einen Anspruch auf das physische und soziokulturelle Existenzminimum, der "dem Grunde nach unverfügbar" sei. Weiter heißt es darin: Neben Nahrung, Kleidung, Obdach und medizinischer Versorgung gehöre dazu auch "ein Mindestmaß an gesellschaftlicher Teilhabe".
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Der Paritätische Wohlfahrtsverband erklärte, Sanktionen erzeugten außerdem darüberhinaus Angst, psychische Probleme und führten zwangsläufig in die Verelendung, da Betroffene keine nennenswerten Rücklagen haben dürften. Er zitiert außerdem aus einer BVerfG-Entscheidung von 1977. Danach sei selbst Schwerverbrechern die Existenz zwingend zu sichern. "Die Ablehnung eines Jobs ist aber nicht einmal eine Straftat", so der Verband.
Sonderrecht mit Beweislastumkehr
Der Erwerbslosen-Verein Erlacher Höhe beschrieb dramatische Fallbeispiele und kritisierte die Willkür, die Sachbearbeiter kraft Gesetzes ausüben könnten. Es genüge ein einseitiger Vorwurf. Betroffene seien dann gezwungen, diesen zu widerlegen und würden in jedem Fall sanktioniert. Denn hier räume Hartz IV den Sachbearbeitern ein "Sonderrecht" ein: Widersprüche und Klagen entfalten keine aufschiebende Wirkung, die Strafen werden erst einmal verhängt.
Menschen würden unter das physische Minimum gedrückt, mahnte auch der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB). Die Sachleistungen, mit denen der Staat Sanktionen rechtfertigt, müssten nämlich nicht nur ohnehin gesondert beantragt und gar nicht zwingend gewährt werden. Sie beschränkten sich meist auf Lebensmittelgutscheine für bestimmte Supermärkte. Ihr Maximalwert bei Vollsanktion betrage gerade einen halben Regelsatz, also höchstens wenig mehr als 200 Euro pro Monat. Weder Miete noch Strom könnten davon beglichen werden, obwohl auch dies existenziell sei. "Das Sanktionsregime nimmt keine Rücksicht auf die Bedürftigkeit", konstatierte der DGB.
Anwaltsverein: Kranke werden drangsaliert, Angehörige haften mit
Der Deutsche Anwaltsverein warf den Jobcentern vor, psychisch labile, kranke und besonders wehrlose Klienten am härtesten zu drangsalieren. Außerdem treffe es stets die gesamte Familie, also auch Partner, Kinder oder Eltern. Diese könnten den Betroffenen nicht einfach hungern lassen. Die Juristen erklärten:
Sanktionen führen nach den Erfahrungen aus der anwaltlichen Praxis in der Regel zu einer deutlichen Verschlimmerung der Lage im Sinne einer Abwärtsspirale und zu einer weiteren Verschuldung, beispielsweise durch Mietschulden.
Der Sozialverband VdK geißelte die Praxis als "schweren Eingriff in die Grundrechte". Die Caritas und die Diakonie rügte neben der Mithaftung von Angehörigen auch Kürzungen der Wohnkosten und die schärferen Strafen gegen minderjährige Jugendliche und junge Erwachsene. Sie plädierten beide allerdings nur dafür, die Strafen abzumildern.
Auch der Deutsche Verein befand die Art und Höhe der Sanktionen für unangemessen. Außerdem seien mögliche Sachleistungen nur Kann-Leistungen, ihre Höhe unterliege keiner Prüfung hinsichtlich physischer Versorgung, wie vom BVerfG schon 2010 gefordert. Ähnlich sieht es der Deutsche Sozialgerichtstag. Die Praxis sei "neu zu erforschen und zu bewerten", mahnte das Gremium in seiner Stellungnahme. Und: Aktuell führe sie "sehr wahrscheinlich gesundheitliche Beeinträchtigungen herbei oder verstärkt sie".
Nur fünf Institutionen befürworteten die rabiate Strafpraxis ohne jegliche Einschränkung: die Bundesagentur für Arbeit (BA), das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS), die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BdA), der Deutsche Landkreistag sowie der Deutsche Städtetag. Wie üblich erklärten sie, dass Sozialleistungen nicht bedingungslos gewährt werden und Betroffene eben mitwirken müssten.
Erpressungsinstrument für Lohndrückerei
Kritiker beklagen seit langem Hartz IV als staatliches Erpressungsinstrument. So auch die Linksfraktion im Bundestag: Bei ihren jährlichen Anträgen für die Abschaffung der Sanktionen rügt sie stets auch deren negative Wirkung auf die Löhne. Würden Menschen durch existenzielle Drohungen in schlecht bezahlte Jobs gezwungen, drücke dies auch die Löhne, und der Niedriglohnsektor weite sich folglich ebenso immer stärker aus.
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Doch Zustimmung erhielt die Linke in den letzten Jahren nur von den Grünen. Der gesamte Rest der "etablierten" Parteien - von der Union über die SPD und die FDP bis hin neuerdings auch zur AfD - verteidigten die Hungerstrafen - auch zuletzt wieder im Juni dieses Jahres - vehement. Kai Whittaker von der CDU/CSU-Fraktion erklärte etwa, die Linke bilde sich den Druck auf die Löhne nur ein. "Soziale Verelendung ist ebenfalls eine Mär", sagte er. Schließlich müssten die Leute eben für ihre Sozialhilfe auch was leisten, so der 33jährige Jungpolitiker und Mitglied des Deutschen Bundestages.
Union, FDP, AfD und SPD finden Hungerstrafen gerecht
Matthias Bartke (SPD) befand die Anträge von Linken und Grünen als "lästig" und log - wie üblich: "Gerade einmal drei Prozent der Leistungsberechtigten wurden letztes Jahr sanktioniert." Dass dies nicht stimmt, ist den eigenen Zahlen der BA zu entnehmen. Betroffen waren danach 420.000 Menschen, viele davon mehrfach. Das ist ein Anteil von zehn Prozent an den rund 4,2 Millionen 15- bis 65-jährigen Hartz-IV-Beziehern.
Doch Pascal Kober von der FDP wiederholte die Lüge noch einmal und wetterte: Zu den Grundpfeilern des Staats gehöre Lohnarbeit aus eigener Kraft. Dann verlangte er mit Nachdruck: "Die Nichterfüllung solidarischer Pflichten muss Konsequenzen haben." Die Wähler-Klientel seiner Partei aus den Kreisen des Großkapitals meinte er damit aber ganz sicher nicht.
Schließlich behauptete Jörg Schneider von der AfD, die Linke habe offenbar "zu viel Distanz zur Realität". Arbeitslose müssten sich - wie jeder andere - den Anforderungen des Arbeitsmarktes unterwerfen, so Schneider. Dies sei "gerecht" meinte er. Außerdem seien Niedriglöhner oft ärmer. Dies ist falsch, da sie dann Anspruch auf aufstockende Leistungen inklusive eines Freibetrags haben. Ohne den Beweis zu erbringen, legte Schneider noch eine Unterstellung drauf: Viele Hartz-IV-Bezieher würden ohnehin "schwarz arbeiten".
Keine Euphorie: Sozialverbände und Kritiker warten ab
Der Tacheles-Vorsitzende Harald Thomé erwartet indes nicht, dass Karlsruhe das rigide Hartz-IV-Instrument kippt. Es sei aber wahrscheinlich, erklärte er, "dass das BVerfG Teile davon für unzulässig erklärt". Er denke da an die Ungleichbehandlung von unter und über 25-Jährigen, aber auch an die Streichung von Wohnkosten und die keiner Berechnungsgrundlage und keiner Verpflichtung unterliegenden Essensgutscheine.
Das anstehende Verfahren eröffnet weiterhin Raum für die damals politisch verantwortlichen Parteien, sich klar vom Hartz-IV-System und der damit verbundenen Sanktionspraxis zu verabschieden", so Thomé
So optimistisch will die frühere Jobcenter-Mitarbeiterin und Hartz-IV-Kritikerin Inge Hannemann nicht sein. "Ich bin da leider nicht euphorisch", sagte sie gegenüber der Autorin, "und vermute, dass sie eher mehr Einzelfall-Prüfungen verlangen." Das bedeute aber auch noch mehr Ermessensspielraum für Sachbearbeiter als jetzt schon. "Und das führt dann wohl, wie schon die Vergangenheit zeigt, zu noch mehr Willkür."
Hannemann beklagte ferner, dass sich die Verfassungsrichter so viel Zeit für dieses brisante Thema gelassen haben. Dies könnte - so meint sie - an der Krise der Großen Koalition liegen. "Möglicherweise warten sie auch jetzt noch ab, ob sie sich bis Januar noch auflöst." In der Tat steht der Termin für die Verhandlung noch nicht hundertprozentig fest, wie BVerfG-Sprecherin Jennifer Pfohl auf Nachfrage der Autorin angab. Man habe die Beteiligten aber wegen des Jahreswechsels vorab über die Möglichkeit einer Verhandlung an diesen Tagen informiert. Deren erneute Anhörung sei nicht beabsichtigt, erklärte sie.
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