von Wladislaw Sankin
"Warum hat Deutschland bei euch so einen großen Bonus?", fragte verwundert der Obmann für Verteidigungspolitik der Linksfraktion im Deutschen Bundestag, Dr. Alexander Neu, den tschechischen Gast am Ende der Tagung. "Hat euch etwa nicht das Deutsche Reich einmal überfallen und sich euch einverleibt?". Vladimir Handl von der Karls-Universität Prag hatte zuvor in seinem Vortrag das Deutschland-Image in seinem Land gelobt, auch und vor allem, weil Deutschland eine Friedensmacht sei. Auch wenn Deutschland über keine große schlagkräftige Armee verfüge, diktiere es im Moment als große Wirtschaftsmacht gerade im EU-Kontext die Politik zu seinen eigenen Gunsten, erwiderte Neu.
Ex-DDR-Intellektuelle und -Diplomaten für friedliche Koexistenz
Das war nur eine der Episoden aus zahlreichen Diskussionen und Vorträgen der Tagung "Jenseits der Konfrontation! Für eine Neugestaltung der Beziehungen zwischen der EU und Russland". Die internationale Konferenz war von der Rosa-Luxemburg-Stiftung e.V. und dem WeltTrends-Institut für Internationale Politik (IIP) organisiert worden. WeltTrends versammelt vor allem Intellektuelle aus Ostdeutschland und gilt als Ideengeber für außenpolitische Konzepte der Partei DIE LINKE. Das Institut pflegt auch Kontakte zu Instituten in den Ländern Ost-und Mitteleuropas. Diesmal diskutierten beispielsweise auch Gäste aus Polen, Russland und Tschechien mit.
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Nicht zum ersten Mal standen Fragen wie die friedliche Koexistenz, Abrüstung und gemeinsame Sicherheit für Gastgeber der Veranstaltung im Vordergrund der Diskussion. Besorgt war ein Großteil der Experten vor allem darüber, dass die gegenseitigen Drohgebärden seitens des Militärbündnisses NATO und Russlands zunehmend ernster werden, während es für Kooperation und Gespräche kaum noch Möglichkeiten gibt.
Die Vorgeschichte dieses Konflikts am Ende des 20. Jahrhunderts zog sich dabei wie ein roter Faden durch alle Panels der Konferenz. So lieferten die zwei früheren DDR-Botschafter Arne Seifert und Peter Steglich sowie Staatssekretär a.D. Hans Misselwitz tiefe Einblicke in die Geschichte internationaler völkerrechtlicher Verträge, um die Wurzeln der heutigen Gegensätze aufzuzeigen.
Russisches "Sicherheitssyndrom" ist wohlbegründet
Der Ex-Diplomat Arne Seifert schlussfolgerte: Die Osterweiterung der NATO bilde heute den Kern eines Sicherheitssyndroms Russlands, denn Russland sei momentan aus der gesamteuropäischen Sicherheitszone ausgeschlossen. Diese Feststellung war auch der Grundtenor vieler anderer Beiträge des Tages. Seine zweite Schlussfolgerung, die bundesdeutsche Seite trüge die volle Mitverantwortung für die Osterweiterung der NATO, fand hingegen nicht bei allen beteiligten Experten Zustimmung. Deutschland hätte angesichts seiner beschränkten Souveränität gar nicht die Kompetenz besessen, in den Schicksalsjahren 1989-1991 irgendwelche eigenständigen Entscheidungen zu treffen, entgegnete Dr. habil. Erhard Crome vom IIP.
Totschweigen oder Verzerren
Die Diskussion fand ohne irgendeine Beachtung seitens der Medien statt, obwohl auf der Konferenz viele bekannte hochkarätige Experten und Politiker wie z.B. MdB Alexander Neu mitdiskutierten. Der Umstand, nicht dem aktuellen politischen "Zeitgeist" zu entsprechen, war den Wissenschaftlern um WeltTrends allerdings sehr wohl bewusst:
Es geht um alternatives Denken zu den gegenwärtigen dominanten Strömungen in Politik und Medien, die auf eine Rückkehr zur Konfrontation in der Weltpolitik generell und im Verhältnis zu Russland speziell zielen", heißt es im Programm der Veranstaltung.
Den Umgang der Mainstream-Medien mit Ost-Experten könnte man allerdings als "Totschweigen" bezeichnen. Und diese Strategie, so nachvollziehbar sie angesichts der zur ihrer Linie "alternativen" Konzepte sein mag, beunruhigte die Teilnehmer. Die Tatsache, dass es keinen Austausch zwischen den friedensorientierten Kräften dieser Gesellschaft und deren politischen Entscheidungsträgern gibt, lasse nichts Gutes für die Zukunft erahnen.
Einer der Redner auf der Konferenz berichtete denn auch über eine konkrete Beobachtung: So wurde laut Alexander Rahr, Publizist und Mitglied mehrerer deutsch-russischer Gremien, das hochrangige Treffen in Moskau im Rahmen der Potsdamer Begegnungen aus der Ferne durch die Bild-Zeitung aufs Übelste "besudelt". Sein Fazit: In den deutschen Medien dieser Coleur gilt nach wie vor als Konsens, dass man über Entspannungsversuche mit oder von Russland entweder gar nicht oder verleumderisch berichtet.
NATO-General in der Minderheit
Dass sich nicht alle Teilnehmer in Grundsatzfragen untereinander einig waren, zeigte ein Meinungsaustausch während des Panels zur Russland-Politik, als der Bundeswehr-Brigade-General a.D. und Ex-Abteilungsleiter im Brüsseler NATO-Hauptquartier Klaus Wittmann sich zu Wort meldete. "Ich bin mir im Klaren, dass ich hier in Minderheit bin", sagte er gleich zu Beginn und referierte über die - nach seiner Meinung - von den übrigen Teilnehmern verkannten Friedensbemühungen des Nordatlantischen Blocks. Russland lasse es im Unterschied zur NATO auch an Transparenz fehlen, sagte er im Hinblick auf die letzten russischen Militärgroßübungen Zapad 2017 und Wostok 2018.
Die Frage, ob man überhaupt genug für einen außenpolitischen Paradigma-Wechsel täte oder nicht, war bis zum Ende der Veranstaltung vorherrschend. So sagte der wohl älteste Teilnehmer, der 90-jährige Prof. Wilhelm Ersil in Erwiderung auf das neueste außenpolitische Positionspapier der SPD, man habe keine Zeit mehr für dort proklamierte "kleine Schritte" in Richtung zur Entspannung. Man müsse viel "radikaler" und zügiger für ein neues inklusives und nichtmilitärisches europäisches Sicherheitskonzept eintreten. In diesem Punkt waren sich - gemessen an ihren Reaktionen - fast alle Teilnehmer dieses Potsdamer Außenpolitischen Dialogs einig.
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