Die SPD hat bei der Wahl in Hessen 10,9 Prozentpunkte verloren, in Bayern zuvor ebenso. Früher wären solch einem Fiasko Rücktritte - mindestens der Spitzenkandidaten - gefolgt. Dieses Mal nichts dergleichen - nur Ratlosigkeit, nicht nur im Willy-Brandt-Haus. Aber der Absturz und die personelle Erneuerung durch den Abschied von Kanzlerin Angela Merkel als Parteichefin bei der CDU bringt nun auch bei der SPD viel Bewegung.
Wie aneinander gekettet in ihrem politischen Schicksal sind bisher Parteichefin Andrea Nahles und Vizekanzler Olaf Scholz. Sie beide waren die Antreiber hinein in die große Koalition, sortierten den an der Basis durchaus weiterhin beliebten Sigmar Gabriel aus. Reihenweise dringen nun aber in den Bundesländern Kandidaten nach vorne, die einen neuen Kurs wollen, und die für personelle Erneuerung stehen. Wie in Nordrhein-Westfalen der neue Landeschef Sebastian Hartmann (41), in Schleswig-Holstein die designierte Landeschefin Serpil Midyatli (43) und in Hamburg Melanie Leonhard (41). Auf der Bundesebene hat Nahles bisher den Vorteil, dass kein anderer jetzt den Vorsitz für das Himmelfahrtskommando übernehmen will.
Die Stimmung ist nervös, die SPD ist gerade in einem Negativsog, ähnlich dem der FDP im Jahr 2013. In einer aktuellen Erhebung kommt die SPD auf 14 Prozent. Das geht aus dem in der Nacht zu Freitag veröffentlichten "Deutschlandtrend" für das ARD-Morgenmagazin hervor. Nun hängt viel davon ab, wer am 7. Dezember in den CDU-Vorsitz gewählt wird. Eine Wahl von Friedrich Merz mit einem konservativ-liberalen Kurs könnte in der SPD als "Gottesgeschenk" gesehen werden, weil die SPD dann ihr Profil schärfen könnte. Allerdings könnte Merkel dann wohl kaum sehr lange Kanzlerin von Gnaden ihres einstigen Widersachers Friedrich Merz bleiben. Zumal sich Merz, will er nicht auch noch in Merkels Abwärtsstrudel hineingezogen werden, von ihr inhaltlich sehr klar distanzieren muss. Sollte die große Koalition zerbrechen und somit eine Neuwahl nötig werden, könnte sich auch für die SPD die Machtfrage völlig neu stellen.
Das könnte gerade für Olaf Scholz zum ernsten Problem werden. Denn er hat viele Gegner in der Partei, die gerne mit seinem Kurs gegen linke Ideen brechen möchten. Und bezüglich Nahles gab es von Anfang an viele Zweifel, ob sie die Richtige ist. In den 18 Jahren mit Merkel als CDU-Chefin hat die SPD bisher sage und schreibe zehn Vorsitzende verschlissen - den Niedergang der SPD haben alle diese Wechsel nicht gestoppt. Die Sozialdemokraten wirken dabei wie ein vom Abstieg bedrohter Verein in der Fußball-Bundesliga, der nun sein letztes Heil im permanenten Trainerwechsel sucht. Das ist auch deswegen riskant, weil die Personaldecke - zumindest auf den ersten Blick - dünner wirkt als bei der CDU.
Jenseits aller personellen Überlegungen plagt die SPD aber vor allem das Problem, das schon viele sozialdemokratische Parteien in Europa in den einen Abwärtsstrudel gerissen hat. Die Bürger wissen nicht mehr so recht: Wofür steht denn diese SPD? Für einen programmatischen Neustart mit einem "linken Realismus" plädiert Nils Heisterhagen, der das Buch "Die liberale Illusion" verfasst hat. "Ich sehe mit Sorge, dass nicht nur die Partei vor die Hunde geht, sondern auch das Land", sagt der bisherige Referent für Grundsatzfragen der SPD-Landtagsfraktion in Mainz. Seine Thesen: Man habe sich zu sehr um den linksliberalen Kulturkampf, um Multikulti- und um Gender-Themen gekümmert und dabei den Kern der sozialen Frage vernachlässigt - und sei außerdem in der Zuwanderungspolitik zu lasch.
Probleme wegen zu geringer Einkommen und Renten, Sorgen vor zu starker Zuwanderung, vor den Folgen der Globalisierung und angesichts der Probleme bei der Inneren Sicherheit müssten beim Namen genannt werden. "Ich habe langsam die Sorge vor französischen Verhältnissen, mit Wutausbrüchen wie in den Banlieues", sagt Heisterhagen. Die SPD-Spitze habe den Kontakt zum Wähler und zur eigenen Basis verloren. "Angela Merkel erzählt uns immer: Alles ist gut. Aber die soziale Lage ist eben nicht so gut wie geschildert", meint Heisterhagen, der sich irgendwo zwischen Sigmar Gabriel und der Linken Sahra Wagenknecht verortet.
"Das Gerede vom dritten Weg, von der neuen Mitte war ein Fehler, ebenso die ganze Deregulierung und das Folgen des neoliberalen Zeitgeistes um die Jahrtausendwende. Ich glaube, Oskar Lafontaine hat Recht gehabt." An der heutigen Situation sei auch die Struktur der Parteispitze schuld, von der die immer "gleiche monotone Tonspur" komme. "Ich glaube, wir haben eine Apparatschikkultur in der Partei, die aufgebrochen werden muss. Warum gibt es zum Beispiel keine Facharbeiter mehr in der SPD-Spitze?", fragt Heisterhagen. "Wir haben eine Überakademisierung der Partei, wo sind die Maurer im Vorstand?"
Mehr raus ins Leben, wo es riecht und auch mal stinkt, riet auch Gabriel schon 2009 seiner Partei. Wobei man auch festhalten muss, dass Gabriel seinen gut gemeinten Ratschlägen selbst nicht gefolgt ist, als er noch die Gelegenheit dazu hatte. Nun schreibt der Ex-Chef in der Zeit, dass der Neustart schon bei weniger Selbstbespiegelung anfange - und einer besseren Vermittlung, was die SPD eigentlich alles in der Regierung durchsetzt. "Mit hundert jungen Influencern, die Tag und Nacht die sozialen Netzwerke bedienen, wären wir besser aufgestellt als mit einer doppelt so hohen Zahl von Mitarbeitern, die nur die Gruppeninteressen innerhalb der SPD austarieren und verwalten."
Neben der Klärung inhaltlicher Konflikte wollen Nahles und Generalsekretär Lars Klingbeil nun Zukunftskonzepte entwickeln, etwa für den Sozialstaat 2025 und die neue Arbeitswelt. Klingbeil schwebt zum Beispiel eine Maschinensteuer vor. "Ich will, dass die riesigen Unternehmensgewinne, die durch Automatisierung und Roboterisierung entstehen werden, der Gesellschaft zugute kommen", schreibt er in einem Gastbeitrag für das Portal T-Online.de.
Neue Ideen sind zwar hilfreich, beheben aber das eigentliche Problem der SPD nicht: die Glaubwürdigkeit. Denn prekäre Arbeitsverhältnisse - etwa von Leiharbeitern - haben ihren Ursprung eben in der rot-grünen Regierungszeit. Ebenso die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe (zu Hartz IV). Ein klarer Bruch mit der SPD aus der "Schröder-Zeiten" hat weder programmatisch noch personell jemals stattgefunden. Und wenn sich die SPD zum Vorkämpfer gegen hohe Mieten aufschwingt, dann muss sie sich fragen lassen, warum zum Beispiel in Berlin die SPD-geführten Landesregierungen jahrelang öffentliches Bauland und städtische Immobilien an meistbietende Investoren verkauft haben, was nicht nur die Mieten, sondern obendrein auch noch die Preise in die Höhe treibt.
Trotzdem klammert man sich in der SPD an den Anspruch, noch Volkspartei sein zu wollen. Dadurch wirkt man wie ein Gemischtwarenladen, der allen alle Bedürfnisse erfüllen will. So möchte man die Arbeitsplätze in der Braunkohle retten und sich zugleich beim Klimaschutz schärfer positionieren – denn der Höhenflug der Grünen stürzt nun vor allem die Sozis in Panik. Der Politologe Wolfgang Merkel meint, die SPD müsse in der Koalition "die Schmerzgrenze der Union viel stärker austesten", um ihr Profil zu schärfen. Bei allen Problemen brauche es gerade heute eine Sozialdemokratie, "die die Ideen und Handlungskraft besitzt, unser Land auch in turbulenten Zeiten sozial gerecht und demokratisch gesichert in die Zukunft zu führen."
Der 2013 gescheiterte Kanzlerkandidat Peer Steinbrück (SPD) meldete sich ebenfalls zu Wort und erklärte, es brauche anstelle der Vorsitzenden Andrea Nahles an der Parteispitze einen Charismatiker vom Typus des "linken" US-Senators Bernie Sanders brauche. Man müsse mutig sein, provozieren und zuspitzen, sage er der Süddeutschen Zeitung. "Das läuft darauf hinaus, dass die SPD eher eine Person wie Bernie Sanders braucht, nur 30 Jahre jünger". Namen nannte er nicht. Auf Wahlveranstaltungen in den USA begeistert der 77-Jährige Sanders immer wieder seine Anhänger.
Doch man muss gar nicht erst über den großen Teich schauen – ein kurzer Blick über den Ärmelkanal würde schon genügen. Dort macht der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn mit "Old School-Sozialdemokratie" Punkte und schickt sich an, bei den nächsten Wahlen Theresa May abzulösen.