Als Anis Amri am 6. Juli 2015 bei der Freiburger Polizei wegen unerlaubten Grenzübertritts aktenkundig wurde, war er nur ein Fall unter vielen in diesem Jahr, der eine routinemäßige Bearbeitung erfuhr. Die Aussagen der damals diensthabenden Beamten vor dem Untersuchungsausschuss zeigen, wie überlastet die Behörden zu jener Zeit waren.
Der damals zuständige Beamte erinnert sich nicht mehr an den Tunesier persönlich, gab aber nach Aktenlage zu Protokoll, dass zu dieser Zeit "Amri wie 99 Prozent der Einreisenden, die vor seinem Schreibtisch gesessen hätten, kein Ausweisdokument mitgeführt und nur Arabisch und Französisch gesprochen, das Wort 'Asyl' aber verständlich vorgebracht habe".
"So schnell wie möglich diese Leute durchschleusen"
Der Beamte erinnere sich nicht mehr, ob er einen Französisch sprechenden Kollegen hinzugezogen habe. In der Regel habe die Anweisung gegolten, bei solche Erstbegegnungen keinen Dolmetscher einzusetzen und keine Fragen zu stellen:
Wir sollten so schnell wie möglich diese Leute durchschleusen.
Er habe Amri einen Zettel hingeschoben und ihn gebeten, darauf seinen Namen und sein Geburtsdatum zu schreiben. Diese Angaben habe er notgedrungen ungeprüft in die Papiere aufgenommen, mit denen er Amri registriert habe. Dieser hatte sich in Freiburg unter dem Namen "Amir" vorgestellt.
Die Beamten des Freiburger Polizeireviers Nord setzten den Neuankömmling mit einer "Bescheinigung über die Meldung als Asylbewerber" (BüMA) und einer Fahrkarte in den Zug nach Karlsruhe, wo er sich in der baden-württembergischen Landesaufnahmestelle melden sollte. Doch dort kam er nie an. Er tauchte unter und ließ sich einige Wochen später unter dem Namen "Mohammed Hassan" in Berlin ein weiteres Mal als Asylbewerber registrieren. Nachdem er somit für die Freiburger Behörden verschollen war, stellte der zuständige Amtsanwalt am 29. Juli 2015 das Verfahren vorläufig ein und schrieb Amri zur Aufenthaltsermittlung aus.
Überlastung der Anwaltschaft
"Ich hatte mit Amri nie persönlich zu tun. Für mich war er ein Aktenvorgang", sagte der Amtsanwalt dem Ausschuss. Amri sei obendrein nur ein Fall "unter sehr vielen" gewesen. Im Juli 2015 seien allein über seinen Schreibtisch 93 Anzeigen wegen unerlaubten Grenzübertritts gegangen. Insgesamt habe sein Dezernat in jenem Monat 141 vergleichbare Fälle zu bearbeiten gehabt. Im Gesamtjahr 2015 habe sich die Zahl auf 1375 summiert:
Wenn jeder Fall so viel Arbeit macht, ohne einen Ertrag zu bringen, liegt der Gedanke nahe, den Fall zu beenden.
Für die schleppende Ermittlungsarbeit gibt es Gründe: Weil der Aufenthaltsort des Mannes unbekannt war, wusste der Amtsanwalt nicht, an welche Staatsanwaltschaft er das eingeleitete Ermittlungsverfahren zuständigkeitshalber abgeben konnte. Zudem war er völlig im Unklaren über Amris Reiseweg nach Deutschland, weil in seinem Fall keine Eurodac-Abfrage vorlag. Eurodac ist die europaweite Fingerabdruck-Datenbank, die darüber Auskunft geben kann, ob ein Migrant vor der Einreise nach Deutschland möglicherweise schon in einem anderen EU-Staat einen Asylantrag gestellt hat.
Für die Beurteilung einer Anzeige wegen unerlaubten Grenzübertritts ist Eurodac von entscheidender Bedeutung. Produziert das System keinen Treffer, gilt die Vermutung, dass der Migrant tatsächlich Anspruch auf ein Asylverfahren hat. Amris Asylantrag hatte demnach reelle Chancen. Doch sein Weg führte letztendlich nach Berlin, wo er sich in der Fussilet-Moschee radikalisierte.
"Intensivierung der Beobachtungen zu Amri"
An dieser Stelle kommt der Verfassungsschutz ins Spiel. Er hat bereits ein knappes Jahr vor dem Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz eine Personenakte über den Attentäter geführt. Dies bestätigte die zuständige Sachbearbeiterin dem Untersuchungsausschuss ("Breitscheidplatz"). Nach den Worten der Zeugin galt Amri als Islamist mit Gefährdungspotenzial.
Die ersten Erkenntnisse über Amri hätten im Januar 2016 vorgelegen, elf Monate vor dem Anschlag am 19. Dezember, berichtete die Beamtin. Sie habe daraufhin veranlasst, dass im Februar und März 2016 Verbindungsleute des Verfassungsschutzes im radikalislamischen Milieu zur Person Amris befragt wurden. Allerdings lieferte die Aktion keine wesentlich weiterführenden Ergebnisse, so die bisherige Information des Verfassungsschutzes. Nach Recherchen des Magazins Kontraste habe der Dienst jedoch die "Intensivierung der Beobachtungen zu Amri" angeregt. Dies hatte Hans-Georg Maaßen bis jetzt verschwiegen. Nach dem Anschlag am Breitscheidplatz hatte Maaßen stets beteuert:
Der Anis Amri ist mit polizeilichen Mitteln abgedeckt worden.
Zudem verschwieg er, dass es einen V-Mann im Umfeld Amris gegeben hatte. In einem internen Papier heißt es dazu: "Ein Öffentlichwerden des Quelleneinsatzes gilt es schon aus Quellenschutzgründen zu vermeiden." Oppositionspolitiker fordern seitdem immer wieder den Rücktritt des Präsidenten.
Im Fall Amri liefen die Bemühungen der Staatsanwaltschaft ins Leere. Im Laufe des Jahres 2016 gingen zwar 13 Hinweise aus dem Bundeszentralregister ein, wenn der Mann irgendwo in Deutschland auffällig geworden war, doch fand sich nie eine verwertbare Wohnadresse. Am 24. November 2016 wurde das Verfahren gegen Amri endgültig eingestellt. Am 19. Dezember steuerte Amri einen Lastwagen in den Berliner Weihnachtsmarkt.
(Online-Dienst des Bundestages/ RT deutsch)
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