Es war US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee einer NATO-Militärakademie für Stabsoffiziere und Generäle des nordatlantischen Bündnisses aufbrachte. Darin sollten die führenden Militärs der Mitgliedsländer auf eine gemeinsame politische Linie gebracht werden. Die Akademie fungiert aber auch als eine Art von militärischem Think Tank, welcher ebenso Meinungspapiere produziert wie die zivile Denkfabrik der NATO, der Atlantic Council.
Eine aus deutscher Sicht schon fast befremdliche Analyse veröffentlichte jüngst das NATO Defence College unter dem Titel "Germany's Russia Challenge" (Deutschlands Herausforderung rund um Russland), geschrieben von John Lough. Als ehemaliger Pressemitarbeiter der NATO in Moskau und außenpolitischer Berater bei TNK-BP, dem drittgrößten Ölunternehmen Russlands, arbeitet Lough zurzeit als Fellow im britischen Think Tank Chatham House, mit Schwerpunkt Russland und Eurasien. Bis Ende 2017 schrieb er auch Artikel für die ukrainische Zeitung Kyiv Post und die russische Publikation The Moscow Times, mit eindeutigen antirussischen Positionen.
"Wirtschaftliche Interessen hindern den ungetrübten Blick"
Überraschend ist dieses NATO-Papier von John Lough dennoch. Bereits ganz am Anfang meint er, in Berlins Verhalten gegenüber Moskau einen Ausdruck von "Deutschlands Schwierigkeit, den breiteren Kontext des russischen Verhaltens zu sehen" erblicken zu müssen. Er unterstellt Deutschland, dieses sei trotz der tiefen historischen Wurzeln in Russland und der beispiellosen Kontakte dorthin nicht in der Lage, "die Führung zur Entwicklung eines neuen Narratives für die westliche Beziehung mit Russland zu gestalten". Das Problem liegt laut Lough in der starken deutschen Wirtschaft, die natürlich kein Interesse darin habe, ihre Position in Russland aufgrund von politischen Problemen zu gefährden.
Er moniert die "lahme Reaktion" Deutschlands zur "russischen Aggression" in Georgien, obwohl die Schuld an der Eskalation 2008 laut einer vom Europäischen Rat beauftragten Untersuchungskommission bei der damaligen georgischen Regierung von Micheil Saakaschwili gelegen hatte. Aber das sind für solche Leute wie John Lough nur Nebensächlichkeiten, da sie der eigenen Agenda gegen den Strich laufen.
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Zwar begrüßt er grundsätzlich Berlins Position nach der angeblichen Annexion der Krim, die im Einklang mit jener der NATO stand, was seiner Analyse zufolge schließlich zum "Schock" im Kreml geführt und Präsident Putin dazu veranlasst hätte, den "Pausenknopf zu drücken um die Situation in der Ukraine zu einzudämmen". Dennoch könne man aber daraus keine Führungsqualität der Deutschen ableiten, da kurz darauf bereits der nächste Lapsus der Regierung in Berlin im Zusammenhang mit Nord Stream 2 passiert sei. Und ganz schlimm: Deutschland "war manchmal eher dazu bereit, mehr Druck auf die Ukraine als auf Russland auszuüben, um die Minsker Abkommen umzusetzen". Dass dies daran liegen könnte, dass Moskau gar nicht Konfliktpartei, sondern Garantiemacht für die Rebellen der beiden selbstausgerufenen Volksrepubliken von Donezk und Lugansk ist - so wie Deutschland und Frankreich es für die Ukraine sind -, kommt ihm offensichtlich nicht in den Sinn.
Deutschland als Führungs-Freeloader
John Lough bemüht zwar einen historischen Vergleich, um den Deutschen doch noch irgendwie beweisen zu wollen, wie übel ihnen die Russen doch mitgespielt hätten. Allerdings hat er die Zeitachse ziemlich eng gesteckt, "von der Berliner Blockade bis zur Unterstützung der Friedensbewegung in den 1980er". Außerdem fehle es Berlin an einer "entwickelten strategischen Gemeinschaft" und dem "Ausbleiben einer strategischen Politikkultur". Diesen Umstand führt er auf die "Jahrzehnte des Outsourcings der Führung an die Vereinigten Staaten" zurück, was sicherlich nicht falsch ist, aber eben auch nicht ganz freiwillig geschah.
Ein ganz großer Makel in den Augen von John Lough ist der vermeintliche Wunsch Deutschlands, Russland als wichtigen Partner und Stabilitätsfaktor von Europa zu betrachten. Dies führt er auf die "alte Kamelle" zurück, laut dem der preußische Prinz Wilhelm I. "Freundschaft und Harmonie mit dem russischen Zaren" gesucht haben soll, da es "nichts zu gewinnen gibt", wenn man den russischen Bären provoziere.
Zudem spiele das starke Wirtschaftsinteresse Deutschlands aufgrund seiner übermäßigen Exportabhängigkeit eine Rolle, was dazu führe, dass Berlin "nach wie vor nicht in der Lage ist, strategisch zu denken und zu handeln". Dass in den Augen von Lough Russland genau diese Rahmenbedingungen angreift, die Deutschland gerne haben möchte und Berlin dieses "offensichtlich nicht sieht oder zumindest nicht sehen möchte", könnte vielleicht aber auch daran liegen, dass man dort tatsächlich eine andere Betrachtungsweise als die angelsächsischen "Partner" hat.
Zum Schluss holt Lough dann sein stärkstes Argument aus dem Zauberkasten, weshalb sich seiner Meinung nach Deutschland so schwer damit täte, die gleiche Sicht auf Russland zu entwickeln wie er:
Schlussendlich ist da diese tiefsitzende Angst vor Russland. Verschiedene Faktoren führen dazu, einschließlich des Ausmaßes der Niederlage, die der Wehrmacht während des Zweiten Weltkriegs zugefügt wurde, und der Erinnerungen daran, wie die Rote Armee in Deutschland einmarschiert ist und sich lizenzierter Vergewaltigung und Raub in schockierendem Ausmaß als Rache für das Verhalten der angreifenden Deutschen in die UdSSR (1941) hingab.
Aus diesem Grund wäre es umso überraschender zu beobachten, dass Deutschland "ein System in Russland unterstützt, dass freundlich gegenüber Deutschland ist, aber vermehrt feindlich gegenüber deutschen Interessen" agiere. Diese Verhaltensweise wäre seit der Kanzlerschaft von Helmut Kohl "konsistent" und hätte zur Folge, dass Deutschland stets einen falschen Blick auf die Entwicklung gegenüber der Beziehung zu Russland eingenommen habe. Daran hätte sich selbst unter der langen Kanzlerschaft von Angela Merkel nicht viel verändert, mit einigen positiven Ausnahmen bei der Sanktionierung von Russland mal abgesehen.
Beim ukrainischen Nationalismus lieber mal wegsehen
Aber das reicht John Lough nicht. Angesichts des Abschusses des malaysischen Passagierflugzeuges MH-17, der Russland angelastet wird, und der steigenden Opferzahlen im Donbass, die er als Beweis wertet, dass "Russland Gewalt in die deutsche Nachbarschaft exportiert", reiche es eben nicht mehr aus, nur auf Dialog mit Moskau zu setzen. Es wäre stattdessen an der Zeit, eine "ernsthafte Debatte über Russland" zu führen, um dem Kreml klarzumachen, dass sich Russland und nicht das internationale System ändern müsse. Ein Weg dazu wäre laut dem Autor des NATO-Papiers, dass Deutschland mehr zu nötigen Reformen in der Ukraine beiträgt, in "finanzieller und technischer Hinsicht".
Berlin müsse erkennen, dass die Ukraine "das neue Schlachtfeld zwischen Russland und Europa über die Grenzen der jeweiligen politischen, sozialen und wirtschaftlichen Modelle" darstelle. Wenn es Deutschland, der EU und der NATO gelinge, die Ukraine nach westlichem Vorbild zu reformieren, dann würde auch die russische Bevölkerung das Gleiche für sich selbst reklamieren und entsprechende Reformen auch in Russland fordern.
Dazu gehöre aber auch, "den russischen Narrativ über den ukrainischen Nationalismus, der historisch sowohl inakkurat und übertrieben ist", aus dem politischen Kontext in Deutschland zu streichen, da dies zur "Diskreditierung der Reputation der Ukraine in Deutschland" geführt habe.
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