von Leo Ensel
Na bitte, das war aber auch fällig! Nachdem sich Steffen Dobbert in Zeit Online bereits ausführlich geoutet hatte, zieht endlich – und punktgenau zur Eröffnung der Fußballweltmeisterschaft – Spiegel Online nach. Sehnsüchtig hatte ich seit längerem auf den entsprechenden Kommentar von Qualitätsjournalistin Christina Hebel gewartet, nun hat sie geliefert. Und Spiegel Online hievte den Text sofort auf die Pole-Position.
Machen wir zusammen einen kleinen Test! Überlegen wir doch gemeinsam, bevor wir diesen Artikel lesen, was drin stehen könnte. Vermutlich: Russland, sorry: Zar Putin, wird auf der internationalen Bühne immer unberechenbarer und aggressiver, er führt offene und verdeckte Kriege, rüstet auf und bedroht die Nachbarstaaten; mit Giftanschlägen und systematischen Desinformationskampagnen sorgt er im Westen für Unruhe und Verwirrung; im Inland verletzt er die Menschenrechte und richtet daher als Ablenkung und um sein Volk noch enger um sich zu scharen, die Fußballweltmeisterschaft aus, die korrupten FIFA-Funktionäre unterstützen ihn dabei willig! Auf dem letzten von Russland ausgerichteten Großereignis, den Olympischen Winterspielen in Sotschi, waren russische Sportler reihenweise gedopt.
Das ganze WM-Spektakel kostet das russische Volk Milliarden, die sich Putin-nahe Oligarchen in die Tasche stecken. Leider ist es der westlichen Welt nicht gelungen, noch rechtzeitig dazwischen zu grätschen und einen Boykott auf die Beine zu stellen! Zum Glück gibt es aber ein paar aufrechte kleinere Länder, die sich wenigstens weigern, ihre Spitzenpolitiker zu der Show zu schicken. Garniert wird der Text voraussichtlich durch Interviews mit ein oder zwei Oppositionellen, die den Westen dringend davor warnen, auf das ganze Propaganda-Theater reinzufallen.
So, und jetzt gehts los. Schauen wir mal, wie viele Volltreffer wir gelandet haben! (Unzutreffende Vermutungen zählen als Treffer der Gegenseite.)
„Der Weltmeister“
Immerhin, eine kleine Variation der üblichen Sprachregelung in den Qualitätsmedien gibt es schon in der Überschrift zu vermelden: Diesmal sind es nicht, wie üblich, „Putins Spiele“, sondern „Wladimir Putin und seine Fußballspiele.“ Und das Ergebnis steht bereits fest: „Der Weltmeister“ ist – na, Sie wissen schon! Dazu ein Foto vom russischen Präsidenten, umringt von mindestens zwanzig jungen Nachwuchsspielern im Alter von acht bis zwölf Jahren. Einen segnet er liebevoll mit der Rechten, dem anderen hat er väterlich die Linke auf die Schulter gelegt.
Nun der Teaser und – 1:0 für uns!! Schon im ersten Satz werden, wie wir dunkel ahnten, die „Milliarden“ erwähnt und die „teuerste WM, die es je gab“. Schade, dass wir Letzteres nicht explizit prognostiziert hatten, aber okay. Als nächstes jedoch – große Enttäuschung! Weder Russlands Kriege noch die prekäre Menschenrechtslage werden thematisiert, sondern – Putins (mangelnde) Fußballerfähigkeiten! Kickernd wurde der sonst so sportliche russische Präsident erst in seinem WM-Werbevideo mit FIFA-Chef Gianni Infantino gesichtet, wo es ihm allerdings gleich zehn Sekunden lang gelang, den Ball in der Luft zu halten. Das gibt selbstverständlich Anlass zu Spekulationen. In Russland können auch solche Filme gefaked sein!
Welcher Vorwurf kommt nun also? Doping? (Würde an dieser Stelle gut passen.) Fake News? (Ebenfalls.) Wieder Fehlanzeige! Es geht um Putins Enttäuschung mit der russischen Nationalmannschaft. Schade. Kein Tor!
Putin hat natürlich schon gewonnen
Aber jetzt, mit der Überleitung wird‘s spannend: „Auch wenn das Team zuletzt vor allem enttäuscht hat – Putin hat schon jetzt mit dieser Fußball-WM gewonnen – und das in vielerlei Hinsicht.“ Achtung, da muss doch jetzt ein Treffer von uns landen! „Die WM ist sein Prestigeprojekt.“ Hatten wir das vorhergesagt? Nein, nicht so richtig! Es geht jetzt zwar nochmals um die mit 12,2 Milliarden Euro teuerste WM der Fußballgeschichte – „2,7 Milliarden mehr, als offiziell angegeben“ –, aber dieses Tor haben wir ja schon geschossen! Das „gigantische Modernisierungsprogramm“ ist diesmal nicht im russischen Schlamassel versunken – schließlich war es ja die FIFA, die Fristen und Standards vorgab. Allerdings um den Preis, „dass Arbeiter, darunter auch viele Gastarbeiter aus Zentralasien, teils unter schwierigen Bedingungen und am Ende ohne Bezahlung schuften mussten.“ Mist, diesen erwartbaren Vorwurf – den man natürlich auch Katar für die WM 2022 machen kann – hatten wir vergessen!
Nun aber! „Zudem versickerten nach Angaben der liberalen Oppositionspartei Jabloko mindestens 1,3 Milliarden Euro beim Bau der Stadien, mit denen kremlnahe Oligarchen wie Arkadij Rotenberg, Putins Vertrauter und Judo-Partner, beauftragt wurden.“ Ha, haben wirs nicht schon immer gesagt? 2:0!!
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„Für Putin gilt die Gleichung WM = Großmacht. Die UdSSR war eine Großmacht dank des Sports. Putin glaubt an diesen Zusammenhang noch heute“, zitiert Hebel Politikberater Gleb Pawlowski, der „1999 mit dafür sorgte, dass Putin jung und stark erschien – und der Kontrast zu seinem todkranken und dem Alkohol verfallenen Vorgänger Boris Jelzin klar hervortrat.“ Für diesen atemberaubenden Kontrast hatte Putin also, laut Qualitätsjournalistin, extra einen Politikberater benötigt! Hatten wir das prognostiziert? Zugegebenermaßen, nein!
Kurze Zwischenbilanz: Frau Hebel, Sie argumentieren origineller als gedacht!
Nun allerdings unterläuft ihr ein Flüchtigkeitsfehler - Fehlpass: Putin „holte die olympischen Winterspiele 2014 nach Sotschi, deren Glanz angesichts des Dopingskandals allerdings international schnell verblasste.“ Tor!! 3:0!!
Und dabei bleibt es nicht: „Ereignisse wie die WM mit ihren emotionalen Bildern stiften Identität und Stolz, was wichtig ist in so einem großen Land, das nach dem Zerfall der Sowjetunion immer noch seinen Weg sucht.“ Das hatten wir jedenfalls gemeint, als wir davon sprachen, dass sich das Volk, dank der WM nun noch enger um Putin scharen würde! – Gilt nicht? Abseits! Putin ist schließlich nicht Russland, sagt der Schiedsrichter. Schade, wir hatten uns schon so über das 4:0 gefreut!
Jetzt wird‘s spannend!
Aber dafür winken jetzt ganz große Chancen: „Angesichts des Fußball-Trubels werden die Konflikte und Kriege Russlands weit weg erscheinen.“ Jetzt müsste mindestens ein Hattrick drin sein! Los, Christina, lass die Katze aus dem Sack!
„Krim-Annexion.“ 4:0!! (Fällt in die Kategorie ‚unberechenbarer und aggressiver Putin‘.) „Krieg in der Ostukraine.“ Kein weiteres Tor, da gleiche Kategorie! „MH 17.“ Vergessen! Wäre aber auch in die gleiche Kategorie gefallen. „Krieg in Syrien.“ Hattrick, aber ein negativer! Zum dritten Mal Treffer in ein Tor, wo der Ball schon drinlag. Aber jetzt: „Skripal.“ Gilt schon wieder nicht! Immer wieder dasselbe Tor ‚außenpolitisch aggressiver Putin‘.
„Nawalny. Menschenrechte.“ 5:0!! Korrupte FIFA. Frau Hebel benutzt zwar diese Formel nicht explizit, aber den Satz „Die FIFA ist bei all dem ein angenehmer Partner für Russland, gibt man sich doch offiziell unpolitisch“ lässt der Schiedsrichter zu unseren Gunsten gelten. 6:0!!
Nun aber wirds kompliziert: Die Themen „Boykott“ und „tapfere kleine Länder“ werden zwar angesprochen – aber von der falschen Seite! Nämlich von der Duma-Abgeordneten Swetlana Schurowa. Für sie ist das ein Beweis, dass „der Sport nicht durch Politiker manipuliert werden darf.“ Kein Tor, entscheidet der Schiedsrichter.
6:0 Endstand also? Nein, es müssen ja noch die Gegentore, sprich: die unzutreffenden Vermutungen, gegengerechnet werden. Und da kommt nun doch noch etwas zusammen. „Boykott“ und „tapfere kleine Länder“ waren von der falschen Seite angesprochen worden: 6:2!! Warnende Oppositionelle waren falsch prognostiziert – Endstand 6:3!!
Kein schlechtes Ergebnis nach einem aufregenden Match, aber Christina Hebel hat sich besser geschlagen als gedacht.
Spielverderberische Schlussbemerkungen
Liebe Frau Hebel, falls Ihnen meine frechen Bemerkungen auf Ihre Weise gut in den Kram gepasst haben sollten, dann muss ich Sie nun doch noch enttäuschen. Nein, ich bin kein Putin-Apologet, ich halte ihn auch nicht für einen „lupenreinen Demokraten“!
Aber: Putin ist mal als „Westler“ gestartet, und der Westen hat ihm einen Stein nach dem anderen in den Weg gelegt! Wenn er nun zum neokonservativen russischen Nationalisten mutiert ist, dann ist das zum größten Teil die Schuld des Westens. Und wenn Russland mittlerweile ebenfalls an der Rüstungsspirale dreht, dann weil der Westen die Chance der „Pariser Charta“ von 1990 nicht ergriffen, sondern unter anderem einen Rüstungskontrollvertrag nach dem anderen gekündigt hat. So gesehen, haben wir jetzt den Putin, den wir verdienen! Und an Menschenrechtsverletzungen ändert man am Allerwenigsten, wenn man sich, wie unsere Qualitätsmedien, öffentlich erregt und zugleich doppelte Standards praktiziert!
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Vielleicht verfassen Sie ja mal einen Artikel über Egon Bahr! Von ihm könnten Sie lernen, wie man wirklich etwas bewirken kann. Für Frieden und Menschenrechte. Aber diese Arbeit ist unspektakulär und findet weitestgehend im Hintergrund statt. Nur etwas für Menschen, die bereit sind, auch mal die Perspektive der anderen Seite einzunehmen. Und die Geduld aufbringen, kontinuierlich dicke Bretter zu bohren.
Nichts also für gesinnungsethische Missionare!
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