In der Affäre um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gerät auch das Kanzleramt zunehmend in die Kritik. Die FDP will am Montag in Berlin ihren Antrag auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses vorstellen. FDP-Fraktionsvize Stephan Thomae sagte der Süddeutschen Zeitung, es verdichteten sich Hinweise, dass auch Kanzlerin Angela Merkel und ihr Ex-Flüchtlingskoordinator Peter Altmaier (beide CDU) über die Lage im BAMF im Bilde gewesen seien. Das mache deutlich, "dass wir jetzt einen Untersuchungsausschuss brauchen, um restlos aufzuklären". Grünen-Chefin Annalena Baerbock verlangt Auskunft von Merkel im Innenausschuss des Bundestags.
EX-BAMF-Chef Weise: "Die Krise war vermeidbar."
Über den Antrag der FDP soll am Donnerstag im Bundestag erstmals beraten werden. Auch die AfD-Bundestagsfraktion dringt auf einen Untersuchungsausschuss, sie will die Flüchtlingspolitik von Merkel insgesamt durchleuchten lassen. Die anderen Parteien halten einen Untersuchungsausschuss aktuell für nicht notwendig. Grüne und Linke wollen versuchen, die Probleme der Flüchtlingsbehörde in Sondersitzungen des Innenausschusses zu klären.
Am Sonntag war bekannt geworden, dass der frühere BAMF-Chef Frank-Jürgen Weise die Bundesregierung für die Missstände in der Behörde während der Flüchtlingskrise verantwortlich gemacht hatte. "Die Krise war vermeidbar", schrieb Weise nach Berichten von Bild am Sonntag und Spiegel nach seinem Ausscheiden 2017 in einem vertraulichen Papier. Er kritisierte insbesondere das damals von Thomas de Maizière (CDU) geleitete und für Flüchtlingsfragen zuständige Bundesinnenministerium. "Ein funktionierendes Controlling hätte bereits im Jahr 2014 eine Frühwarnung gegeben."
Anfang 2017 verfasste er den Medienberichten zufolge eine 45-seitige Bilanz.
Die neue Leitung hat in ihrer beruflichen Erfahrung noch nie einen so schlechten Zustand einer Behörde erlebt", schrieb Weise.
Es ist nicht erklärbar, wie angesichts dieses Zustandes davon ausgegangen werden konnte, dass das BAMF den erheblichen Zuwachs an geflüchteten Menschen auch nur ansatzweise bewerkstelligen könnte."
SPD-Vize Stegner gibt Merkel volle Verantwortung für die Überforderung des BAMF
Unter anderem listete Weise auf: Im Arbeitspostfach mancher Asyl-Entscheider hätten bis zu 2.000 Fälle gelegen, das IT-System sei veraltet gewesen, 30 Prozent der Asyl-Akten hätten kleinere bis gravierende Fehler aufgewiesen, für die Überprüfung aller syrischen Ausweisdokumente habe es nur drei Personalstellen gegeben. Laut Weise ging der Bericht an das Innenministerium. Wie die Bild am Sonntag berichtete, sprach er 2017 auch zweimal mit Kanzlerin Merkel über die Missstände beim BAMF.
Dazu schrieb SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil auf Twitter: "Wir brauchen schnell Klarheit. Merkel muss Stellung beziehen was sie wann über die Entwicklung beim BAMF wusste." Schärfer formulierte es SPD-Vize Ralf Stegner, der Merkel die volle Verantwortung für die Überforderung der Flüchtlingsbehörde zuwies: "Die Kanzlerin hat schlicht versagt", sagte er dem Tagesspiegel.
Die SPD-Vorsitzende Andrea Nahles ging in der ARD-Sendung "Bericht aus Berlin" nicht auf Merkel ein. "Wir alle wussten doch, dass das BAMF überhaupt nicht aufgestellt war, um die Masse an Flüchtlingen wirklich bearbeiten zu können", sagte sie. Deswegen sei ja Weise entsandt worden, um "aufzuräumen".
Bundesregierung habe jahrelang die Alarmsignale ignoriert
Weise wird voraussichtlich demnächst im Innenausschuss des Bundestags zu den Vorgängen insbesondere in der Bremer Außenstelle der Flüchtlingsbehörde befragt werden. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen deren frühere Leiterin. Unter ihrer Ägide sollen zwischen 2013 und 2016 mindestens 1.200 Asylverfahren ohne Beachtung der Vorschriften positiv entschieden worden sein. Zu den weiteren Beschuldigten gehören auch Anwälte und ein Dolmetscher, darunter ein Anwalt aus Hildesheim.
Grünen-Chefin Baerbock kritisierte, die Regierung sei "über die Jahre in der Flüchtlingspolitik nur auf Sicht gefahren". Merkel müsse jetzt im Innenausschuss des Bundestags erklären, "warum sie trotz dieser Warnungen die Arbeit des BAMF nicht zur Chefinnensache gemacht und Konsequenzen gezogen hat", sagte sie der Süddeutschen Zeitung. Zahlreiche Bundesländer und die Grünen hätten schon vor September 2015 Alarm geschlagen. Aber die Bundesregierung habe das jahrelang bewusst ignoriert.
Weise hatte im September 2015 auf Bitten der Bundesregierung die Leitung des BAMF übernommen. Dieses war durch den stark gestiegenen Zuzug von Flüchtlingen überfordert. Mitarbeiter fehlten, es türmte sich ein Berg von mehreren hunderttausend unerledigten Asylanträgen auf. Weise war damals Chef der Bundesagentur für Arbeit. Er gab die BAMF-Leitung Ende 2016 wieder ab und war bis Ende 2017 noch Beauftragter für Flüchtlingsmanagement beim Bundesinnenministerium des Innern.
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(dpa/rt deutsch)