Einst war sie eine heilige Kuh bei Sozialdemokraten und Grünen – die "Agenda 2010" mit ihrem Kernstück Arbeitslosengeld II, besser bekannt als Hartz IV. Doch nun scheint diese heilige Kuh bald geschlachtet zu werden. Und das ausgerechnet von ihren Erfindern. Als am 14. März 2003 der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder fast 90 Minuten lang im Bundestag sein umfassendes Reformpaket des Sozialsystems und Arbeitsmarktes vorstellte, unterbrachen ihn die Abgeordneten der eigenen rot-grünen Koalition mit Beifall. Im Januar 2005 trat dann Hartz IV in Kraft. Jetzt, 13 Jahre nach der Einführung, distanzieren sich immer mehr SPD-Politiker und Grüne von der "Jahrhundert Reform" aus der Schröder-Ära.
"Der kranke Mann Europas" musste gerettet werden
Die neuesten Zahlen, die die Bundesregierung auf eine Anfrage der Linken herausgab, sprechen eine klare Sprache: Zwischen 2007 und 2017 haben in Deutschland mehr als 18 Millionen Menschen schon einmal "Arbeitslosengeld II" bezogen. Das bedeutet: Mindestens 18 Millionen Menschen mussten all die Erfahrungen machen, die mit Hartz IV unmittelbar zusammenhängen: Sie mussten sich vor einem "Job-Center" völlig offenbaren, ihr "Vermögen" bis auf den letzten Cent offen legen, auch das Einkommen ihres Partners sowie Kindergeld anrechnen lassen, bevor sie "Leistungen" beziehen konnten. Sinnentleerte Gespräche mit den zuständigen "Fall-Managern", fragwürdige "Weiterbildungsmaßnahmen" - beispielsweise von gut ausgebildeten Facharbeitern zu Callcenter-Mitarbeitern - oder gezwungen zu sein, Minijobs anzunehmen, gehören bis heute zum demütigenden Alltag von Millionen "Job-Center-Kunden".
Dennoch galt die "Agenda 2010" über all die Jahre hinweg als unantastbar. Politiker von SPD und Grünen, aber auch von CDU und FDP priesen sie als alternativlos. Sie habe "Deutschland gerettet", schließlich sei das Land vor Einführung der Reform der "kranke Mann Europas" gewesen. Die Linke, die als einzige Partei Hartz IV konsequent ablehnte ("Armut per Gesetz"), wurde verhöhnt und verlacht. Mittlerweile rücken immer mehr Politiker von SPD und Grünen von der "Agenda" ab. Sei es, weil sie sich mittlerweile vielleicht auch der Ansicht der Linken-Abgeordneten Sabine Zimmermann angeschlossen haben, dass Hartz IV die "Verarmung breiter Bevölkerungsteile" zeige; sei es, weil inzwischen selbst neoliberale Ökonomen einräumen, dass der Rückgang der Arbeitslosigkeit seit 2005 weniger der "Agenda"-Politik als vielmehr einer ohnehin anziehenden Konjunktur, der weltweit geschätzten Qualität deutscher Produkte und der jahrelangen Lohnzurückhaltung der Arbeitnehmer zu verdanken sei; oder sei es ganz einfach aus dem profanen Grund, dass die SPD seit der ersten Kanzlerwahl Gerhard Schröders mehr als die Hälfte ihrer Wähler (rund 11 Millionen) verloren hat – und immer mehr Sozialdemokraten realisieren, dass dies möglicherweise auch mit Hartz IV zu tun haben könnte ...
Solidarische Grundeinkommen soll Hartz IV ersetzen
Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller war der erste Sozialdemokrat, der offen die Abschaffung von Hartz IV forderte: "Ich bin überzeugt, dass es keinen Sinn macht, weiter auf Hartz-IV-Reformen zu setzen." Nötig sei eine "neue soziale Agenda". Müller forderte ein "solidarisches Grundeinkommen" für Langzeitarbeitslose, die dafür im kommunalen Bereich beschäftigt werden sollen. Ähnlich äußerte sich Parteivize Ralf Stegner: "Wir brauchen eine Alternative zu Hartz IV." Dem Nachrichtenmagazin Der Spiegel sagte Stegner, das aktuelle System befördere Abstiegsängste, viele Empfänger fühlten sich abgeschrieben, zu wenige schafften den Übergang in normale Arbeit. Die Sozialleistung für Langzeitarbeitslose decke zwar den Grundbedarf, bedeute aber dennoch Armut. "Das solidarische Grundeinkommen könnte ein Konzept sein, das Menschen weder abschreibt noch mit einer Sozialleistung abfindet."
Und zuletzt sagte die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, in einem Interview mit dem Tagesspiegel auf die Frage: Sollte man Hartz IV abschaffen zugunsten eines solidarischen Grundeinkommens, wie es gerade Ihr Parteikollege Michael Müller, Berlins Regierender Bürgermeister, fordert? "Ich finde, dass diese Debatte lohnt – wir sollten diesen Gedanken des Regierenden aufnehmen, ernst nehmen und ihn weiterdenken. Am Ende eines solchen Prozesses könnte das Ende von Hartz IV stehen."
Unterm Strich bekommt fast jeder zehnte Haushalt in Deutschland Hartz IV
Auch der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck fordert das Aus für die "Agenda 2010": "Die Zeit ist über Hartz IV hinweggegangen." Im ZDF-Morgenmagazin reagierte er neulich auf die Äußerungen des designierten Gesundheitsministers Jens Spahn (CDU), mit Hartz IV habe "jeder das, was er zum Leben braucht", mit den Worten, die Menschen seien nicht trotz, sondern wegen Hartz IV arm. "Hartz IV ist nicht gemacht worden, um Armut zu verhindern, sondern um Menschen in Arbeit zu bringen. Das ist vor 15 Jahren vielleicht richtig gewesen." Es werde extremer psychischer Druck auf die Menschen ausgeübt, einen Job anzunehmen. Das sei nicht mehr zeitgemäß. Das System müsse verändert werden.
Bleibt abzuwarten, ob sich diese Erkenntnisse auch in der Bundesregierung durchsetzen, vor allem bei den Ministern von CDU und CSU.
Im Februar bekamen laut Bundesagentur für Arbeit 5,95 Millionen Menschen Hartz IV. Davon waren 4,26 Millionen erwerbsfähig. Rund zwei Drittel hiervon bekamen Hartz IV, ohne arbeitslos zu sein, etwa weil sie einem Minijob oder einer Maßnahme zur Rückkehr auf den Arbeitsmarkt nachgingen, Schule oder Hochschule besuchten oder weil sie wegen Krankheit arbeitsunfähig waren. Unterm Strich bekommt demnach fast jeder zehnte Haushalt in Deutschland Hartz IV. "Die Leistungen schützen nicht vor Armut und gewährleisten keine angemessene Teilhabe an der Gesellschaft", sagte Linken-Abgeordnete Zimmermann. "Für die Beschäftigten, die aufstocken müssen, ist es entwürdigend, dass sie trotz Arbeit zum Sozialfall werden und sich dem Repressions-System Hartz IV unterwerfen müssen, um zu überleben."
Mehr zum Thema-EU-Spitzenreiter: Arbeitslose in Deutschland am meisten von Armut gefährdet