Von Gert Ewen Ungar
Am russischen Wahlsonntag erschienen auf der Startseite von tagesschau.de sage und schreibe fünf Meldungen zum Thema russische Präsidentenwahl. Von 15 Anreißern, die den gesamten Nachrichten-Bereich inklusive Sport und Boulevard abdecken, widmet die Redaktion der Tagesschau ein Drittel den Wahlen in Russland.
Nun ließe sich sagen, es entspräche ihrem Auftrag über wichtige politische Ereignisse zu berichten, schließlich seien die Zuschauer und Leser von tagesschau.de über ein ganzes Jahr mit der Wahl zum US-Präsidenten behelligt worden. Freilich nur, um im Ergebnis zu zeigen, wie verstrickt die Redaktion der Tagesschau ins Geschehen war und mit ihren Prognosen und ihrer Parteinahme völlig neben der Realität lag. Sie war mehr Teil einer politischen Kampagne, als dass sie über politische Kampagnen in den USA nur berichtete.
Von neutraler Berichterstattung und sachlicher Information sind die als Berichte getarnten Meinungsbeiträge natürlich auch in Bezug auf die russische Präsidentenwahl weit entfernt. Die Tagesschau wird ihrem Auftrag nicht gerecht. Wieder mal, möchte man hinzufügen.
Tagesschau schöpft aus trüben Quellen
Die Wahl hatte in vielen Landesteilen noch nicht richtig angefangen, da wusste die Tagesschau schon von eklatanten Mängeln und Unregelmäßigkeiten zu berichten. Die Quellen, auf die sie sich stützt, sind dabei von großer Fragwürdigkeit. Mitarbeiter des Stabes des Oppositionellen Alexei Nawalny sind darunter.
Nawalny, der wegen einer zur Bewährung ausgesetzten Vorstrafe nicht zur Wahl zugelassen wurde, hat seine Wählerschaft zum Boykott aufgerufen. Die in Russland auf Russisch sendende Deutsche Welle hat sich diesem Aufruf übrigens angeschlossen. So viel zum Thema Nichteinmischung.
Wie eine angeblich um Qualität und Neutralität bemühte Redaktion, diesen Mann als Quelle heranziehen kann, der Vorgänge um die Wahl neutral einzuschätzen vermag, wird vermutlich auf immer das Rätsel der verantwortlichen Qualitätsjournalisten bleiben.
Nawalny ist in keiner Weise neutral, er ist in Bezug auf die Wahl auch nicht unabhängig, schließlich strebte er selbst das Präsidentenamt an. Und noch im Wahlvorgang diesen selbst in seiner Gesamtheit einschätzen zu wollen, ist völlig unseriös.
Rätselhafter Beitrag zur russischen Wirtschaft
Auch der Beitrag zur Entwicklung der russischen Wirtschaft gibt mehr Rätsel auf als er Information bereitstellt. Da wird beispielsweise berichtet, dass die Löhne inflationsbereinigt zwar real steigen, die Einkommen aber sinken. Dieser offensichtliche Widerspruch hätte einer Erklärung bedurft. Diese bleibt jedoch aus. Sollen sich die Leser das doch selbst zusammenreimen. Wie bei steigenden Löhnen, die Einkommen sinken können, und das sogar "unaufhaltsam", bleibt ebenfalls ein Geheimnis der Tagesschau.
Doch die Ungereimtheiten im Beitrag gehen weiter. Während die russische Wirtschaft im letzten Jahr wieder gewachsen ist, die Krise, die durch westliche Sanktionen absichtsvoll herbei geführt worden war, also überwunden wurde, macht sich die Tageschau dessen ungeachtet bei einem Wachstum von 1,5 Prozent große Sorgen um die russische Wirtschaft.
Er erstaunt ungemein, dass die Redaktion der Tagesschau bei ähnlichen Zahlen für Deutschland regelmäßig den Boom ausruft, für Deutschland einen "Konsumrausch" prophezeit, sie sogenannte Experten vor Überhitzung der Wirtschaft warnen und den Fachkräftemangel herbeischreiben lässt. Allerdings scheint der Fachkräftemangel nicht in ganz Deutschland, sondern vor allem bei der Wirtschaftsredaktion von tagesschau.de eklatant groß zu sein.
Stalin darf nicht fehlen, wenn es um Russland geht
Bei einer richtig knackigen Russlandberichterstattung in den Öffentlich-Rechtlichen darf ein bisschen Stalin-Grusel natürlich nicht fehlen. Putin erklärte zwar in seiner Rede zur Lage der Nation, dass er vorhandene wirtschaftliche Probleme angehen wird, und gab das Ziel aus, künftig über dem weltweiten Durchschnitt zu wachsen. Doch dazu muss er laut Tagesschau einen linkskonservativen Kurs einschlagen, "ähnlich wie unter Stalin". So lässt sich dort ein Michael Chasin zitieren, wobei unklar bleibt, was ihn zu solch einer Einschätzung qualifiziert und wie das Attribut "linkskonservativ" zu Stalin passt. Es ist doch insgesamt recht sinnfreies Geschreibsel, was die Tagesschau hier ihren Lesern zumutet.
Im Reigen der GEZ-finanzierten Putin-Basher darf Golineh Atai nicht fehlen. In ihrem – wie soll man es nennen, ein Bericht ist es nicht – in ihrer Realitätsverzerrung zeichnet sie das Bild einer Diktatur, die mithilfe demokratisch erscheinender Elemente Demokratie simuliert. Nun gibt es zwar in der westlichen Soziologie den Begriff der Postdemokratie. Dieser allerdings wurde an den westlichen Systemen entwickelt und trifft auch nur auf diese zu. Was Atai macht, ist, die zentralen Probleme des Westens, die Aushöhlung der demokratischen Institutionen bei Beibehaltung demokratischer Verfahren, die dann eben Demokratie nur noch simulieren, auf Russland zu projizieren. Es sind unsere, es sind zentral westliche Probleme, die Atai hier benennt, die sie jedoch dem falschen Land zuschreibt.
Es ist gerade ein großer Verdienst Putins, das Primat der Politik zurückerobert zu haben. Dafür wird er von den Menschen geschätzt. Er hat den neoliberalen Ausverkauf gestoppt. Er hat den Prozess, der gerade im Westen abläuft, umgekehrt, und Wirtschaft wieder domestiziert und in den Dienst der Bürger Russlands gestellt. Atai versäumt es, über diesen wichtigen Zusammenhang zu informieren.
Noch verwunderlicher aber ist, dass Atais Berichte hier als Journalismus ausgegeben werden. Sie erfüllen die Standards nicht. Damit ist sie jedoch nicht allein.
Es steht Atai als Privatperson natürlich frei, sich in ihrer Filterblase einzuschließen. An eine Journalistin sind die Anforderungen jedoch andere. Da sollte man zumindest das breite Spektrum an Meinungen zur Kenntnis nehmen und abbilden. Angesichts des Finanzierungsmodells der öffentlich-rechtlichen Medien, ist das schon eine ziemliches Unverschämtheit, was sich Atai und mit ihr die Tagesschau leisten.
Ein Crescendo an Halbwahrheiten, Auslassungen und Verdrehungen
Ein starkes Stück, dass sich die öffentlichen Sender trauen, für die 17,50 Euro, die hier in Deutschland jedem Haushalt monatlich abgenommen werden, eine derart schlechte Leistung zu erbringen, fernab journalistischer Standards.
Aber wie wir alle wissen: Schlimmer geht immer. Bereits am 15. März präsentierte tagesschau.de in der Reihe #kurzerklärt ein Machwerk, das an dunkelste deutsche Zeiten erinnert. Es hat mit Aufklärung oder Journalismus rein gar nichts zu tun. Es ist reine Propaganda und dient dem Feindbildaufbau.
Demian von Osten orchestriert hier ein Crescendo an Halbwahrheiten, Auslassungen und Verdrehungen, bis es schließlich mit einem Paukenschlag vermeintlich schlüssig aus demokratischen Präsidentenwahlen den Begriff "autoritäres Regime" für Russland hergeleitet hat.
Er leitet ein, dass Russland ein ähnliches Wahlsystem habe wie Frankreich und die USA. Da es aber nicht wie in Frankreich regelmäßig zu einer Stichwahl käme, müsse etwas faul sein. Nur wenn es knapp ausgeht für die Kandidaten, nur dann ist eine Wahl wirklich demokratisch, suggeriert von Osten.
Den Grund findet von Osten nicht in den Wahlen selbst. Auch von Osten muss zugestehen, dass die OSZE an der letzten Wahl und, wie inzwischen klar ist, auch an dieser nichts zu beanstanden hatte. Natürlich ist selbst dieser Persilschein von der OSZE in den Augen von Demian von Osten nicht ganz rein. In jedem dritten Wahllokal sei es zu Unregelmäßigkeiten gekommen. Die Russen! Können nicht mal eine Wahl richtig organisieren.
Was von Osten vergisst zu erwähnen, ist, dass die OSZE auch Deutschland ganz regelmäßig Unregelmäßigkeiten bei der Wahl bescheinigt. Da kommen Tausende von Stimmen abhanden oder werden die falschen Wahlzettel verteilt. All das passiert auch bei uns, ohne dass die Wahl dadurch ihre Gültigkeit verliert. Von Osten unterlässt es freilich, darauf hinzuweisen und so seinen eigenen Einwand zu relativieren.
Verwirrung bei der Tagesschau über russisches Mediensystem
Was für ihn jedoch schlimmer wiegt: Im Vorfeld der Wahl sei es bereits unfair zugegangen. Das liegt an den vielen staatlichen Medien. Eine im Hintergrund eingeblendete Übersicht suggeriert eine schiere Masse. Dort sei für Putin geworben worden. Allerdings wird dort der Auslandssender Sputnik, der in Russland gar nicht ausstrahlt, ebenso dazu gerechnet wie der zu Gazprom gehörige Sender NTW.
Doch es gibt noch andere Einwände. Der Medienmarkt in Russland ist ausgesprochen groß. Es gibt neben den staatlichen Medien eine nahezu unüberschaubare Vielfalt an privaten Medienunternehmen mit einer entsprechenden Vielfalt an Meinungen. Eine Konzentration auf wenige Konzerne, wie das bei uns der Fall ist, gibt es in Russland nicht. Zum Anderen wurde den Kandidaten auch im staatlichen Fernsehen und in der staatlichen Presse breiter Raum gegeben. Auf dem staatlichen ersten Kanal und bei Rossija 1 diskutierten sie nahezu jeden Abend aktuelle Themen.
Was es tatsächlich nicht gab, war eine direkte Begegnung mit Putin. Das mag man ankreiden. Ob das am Ergebnis etwas geändert hätte, ist jedoch fraglich.
Ob sich diese Kritik allerdings ein Sender erlauben sollte, der sich im Vorfeld der Bundestagswahl mit handzahmer Hofberichterstattung gegenüber Merkel hervorgetan hat? Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Steinen werfen, sagt man.
Wir erinnern uns noch an den Tiefpunkt des Wahlkampfes, das Duell zwischen Schulz und Merkel mit vorab abgesprochen Fragen, ganz nah angelehnt an feudale Hofberichterstattung. Vollbracht haben diese Glanzleitung demokratischen Niederganges übrigens Private und Öffentlich-Rechtliche gemeinsam. Das Finanzierungsmodell allein macht einfach noch keinen guten Journalismus aus.
Die Berichterstattung im deutschen Wahlkampf war anbiedernd und regierungskonform. Im Vergleich dazu gehen staatliche russische Medien mit Putin hart ins Gericht.
Der "aussichtsreiche Oppositionskandidat" Alexei Nawalny
Natürlich kommt dann noch das Argument vom ausgeschlossenen Oppositionspolitiker. Von Osten bringt es tatsächlich fertig, Alexei Nawalny den "aussichtsreichsten Oppositionskandidaten" zu nennen. Damit offenbart er seine blanke Ahnungslosigkeit hinsichtlich der russischen Verhältnisse.
Nawalny, der wegen einer Vorstrafe nach russischen Gesetzen nicht als Kandidat zugelassen werden konnte, hatte mit seinem rechtsradikalen Programm überhaupt keine Chance. Dessen ungeachtet meint von Osten, das Gerichtsurteil gegen Nawalny sei politisch motiviert, um ihn von vornherein von der Wahl auszuschließen.
Er beruft sich dabei auf den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof. Und da wird es dann eben grob falsch. In einem ähnlichen Fall hätte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof eine politische Motivation erkannt, so von Osten. Nur: in genau diesem Fall eben nicht. Von Osten unterschlägt das schlicht. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat im Verfahren Nawalny gegen Russland zwar formale Fehler eingeräumt, ihm aber in der Sache nicht Recht gegeben. Das Urteil war demnach nicht politisch motiviert.
In seinem Crescendo der sich steigernden Anwürfe greift von Osten nach westlichen NGOs, um zu belegen, was Russland für ein Staat sei. Bei "Freedom House" wird er fündig und präsentiert diese aus offiziellen US-Budgets und von US-Oligarchen wie dem Spekulanten George Soros finanzierte Organisation als zuverlässige Quelle. Das ist grob unseriös. Er verschweigt die Finanzierung und politische Ausrichtung der Organisation mit dem wohlklingenden Namen komplett.
Und diese "unabhängige" Quelle kommt zu dem Ergebnis, dass es sich bei Russland um ein unfreies Land handelt. Ein nach von Osten wichtiger Demokratieindex nennt das Land daher ein autoritäres Regime. Wumm! Paukenschlag! Russland – autoritäres Regime.
Was von Osten vergisst zu erwähnen, ist, dass der Demokratieindex, den er hier zitiert, ebenfalls von "Freedom House" erstellt wird. Da hätte er auch gleich das Pentagon oder das State Department zitieren können.
Ein Lehrstück in Propaganda
Es ist ein famoses Lehrstück in Propaganda, was uns die Tagesschau hier vorsetzt. Mit den gleichen Mitteln hätte man übrigens auch nachweisen können, dass es sich bei den USA und bei Deutschland, ja, sogar bei der Schweiz nicht um Demokratien handelt. Man muss die Perspektive nur weit genug einschränken, Informationen ausblenden und vorhandene bis hinunter zur Lüge beugen und – schwupp! – hat man das perfekte Zerrbild, das zum Feindbildaufbau dient.
Fazit: Es ist eine absolute Unverschämtheit, was die Tagesschau ihren Zuschauern im Umfeld der russischen Präsidentenwahl zugemutet hat. Von wirklichem Journalismus war das weit entfernt. Im Gegenteil wird hier das, was Tageschau Russland vorwirft, von ihr selbst praktiziert. Es wird voll auf Regierungslinie berichtet, mit tiefer, buckelnder Rücksichtnahme auf politische Allianzen. Aber das ist genau das Gegenteil von unabhängig.
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