RT Deutsch dokumentiert im Wortlaut die Programmbeschwerde, die der ehemalige Tagesschau-Redakteur Volker Bräutigam und Friedhelm Klinkhammer, der Ex-Vorsitzende des ver.di-Betriebsverbandes im NDR, gemeinsam verfasst haben:
Sehr geehrte Rundfunkräte,
die hier per Link genannten Sendungen der ARD-aktuell stehen beispielhaft für das Versagen der Redaktion, über die Vergiftungsaffäre in Salisbury und deren politische Begleiterscheinungen so zu berichten, dass sich der Zuschauer zumindest ein halbwegs schlüssiges Urteil bilden kann.
Zwar wird umfangreich darüber berichtet, dass die britische Regierung nach Auffindung der beiden Opfer, Vater und Tochter Skripal, schon sehr früh und vollkommen beweislos Russland bezichtigt hat, für einen mutmaßlichen Anschlag verantwortlich zu sein, und es wird auch die russische Gegenäußerung dazu referiert. Die politischen und diplomatischen Rahmenvorgänge werden dargestellt, wenn auch nur oberflächlich.
Aber trotzdem leidet die Berichterstattung deutlich unter Schieflage. Grundfragen werden nicht einmal gestellt, geschweige denn ihnen wird nachgegangen. Beispiel: Wem sollte dieser Vorfall in Salisbury nützen? Es wurde lediglich fantasiereich über ein paar auf Russland verweisende denkbare Motive spekuliert. Der ehemaligen ARD-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz blieb vorbehalten, das selbstverständliche „Cui bono?“ im Gespräch bei Lanz im ZDF zu fragen. Den Gniffke-Qualitätsjournalisten fiel das anscheinend nicht ein. Krone-Schmalz erinnerte daran, dass ein ebenfalls freigelassener vormaliger Mithäftling Skripals in der tschechischen Ausgabe von US-Radio Liberty erklärt hatte, es gebe für Russlands Regierung überhaupt kein Motiv, politische Straftäter nach deren Freilassung noch zu ermorden. Krone-Schmalz machte auf ein weiteres Manko aufmerksam: Die Unschuldsvermutung, grundlegendes Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, bleibe regelmäßig außen vor, wenn es um Russland gehe. Auch bei ARD-aktuell blieb diese Frage völlig unterbelichtet, obwohl man sich überschlägt, wenn es darum geht, vermeintlich rechtstaatiche Versäumnisse russischer Behörden bei ARD-Freiheitshelden wie Nawalny bis zum Exzess anzuprangern.
Einem zweitem wesentlichen Fragenkomplex ging ARD-aktuell ebenfalls nicht auf den Grund: Was sagt der Zeitpunkt des Geschehens, in welchem Kontext ist es zu sehen? Stichworte: Präsidentschaftswahl in Russland, Brexit-Ärger der vom Machtverlust bedrohten May etc. pp.
Es wird ferner jeder Hinweis darauf unterlassen, dass das einzige "Indiz" für eine mögliche russische Täterschaft für sich genommen wertlos ist. Die britische Regierung hat ohnehin noch nicht mal einen Nachweis erbracht, dass tatsächlich um ein in der Sowjetunion hergestelltes Gift verwendet wurde. London verweigert sogar ausdrücklich jede Einsichtnahme in die Ermittlungsergebnisse sowie die Herausgabe von Giftproben und verletzt damit die Statuten und Ermittlungsvorschriften der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen, OVPC. Es fragte kein ARD-aktuell-Journalist danach, weshalb London jede Transparenz verhindert.
Ein Beleg für den russischen Ursprung des Giftes würde aber auch nicht weiterführen: Eine russische Täterschaft wäre damit nicht zu beweisen. Die vormals sowjetischen Chemiewaffenbestände wurden in Russland 1992 unter internationaler Aufsicht vernichtet, und es ist aktenkundig, dass damals Expertenkommissionen der USA, Großbritanniens, Israels und weiterer Staaten Zugriff auf die Giftbestände hatten – und allergrößtes waffentechnologisches Interesse daran.
Mit gleichem Anspruch wie bei der Bezichtigung Russlands ließe sich behaupten, es liege ein Attentatsversuch des israelischen Geheimdienstes vor. Der Mossad ist schließlich weltweit berüchtigt dafür, Gegner Israels zu ermorden und hat eine der längsten Erfolgslisten darüber.
Von ARD-aktuell ist zwar kein kriminologisch bzw. forensisch einwandfreies Ermitteln in der Salisbury-Affäre zu verlangen, wohl aber journalistische Sauberkeit, Distanz zum Geschehen und Neutralität in der Berichterstattung.
Kennzeichnend für diesbezügliche schwere Defizite ist, dass in allen Sendungen dieser Nachrichtenredaktion zwar über die Ereignisse selbst und über die Äußerungen der beteiligten Regierungen und Diplomaten berichtet, nicht aber der allerersten Frage nachgegangen wird:
Was ist das Motiv der britischen Regierung, einen solchen internationalen Eklat mit einer so schwerwiegenden Bezichtigung auf so hauchdünnem Eis zu veranstalten, ohne auch nur die Spur eines Beweises vorzulegen, nicht wenigstens ein einziges vernünftiges Argument vorzubringen und sogar ausdrücklich die Herausgabe von Ermittlungsdaten zu verweigern?
Kam niemand in der ARD-aktuell-Redaktion auf den Gedanken, deswegen Nachfrage bei der Regierung May zu halten? Zum Beispiel mit der Begründung, dass Russland sehr viel unauffälligere Mittel und Möglichkeiten hätte, sich eines Ex-Geheimdienstlers zu entledigen? Warum verwies ARD-aktuell nicht darauf, dass Sergej Skripal regelmäßiger Besucher der russischen Botschaft in London war und deshalb jederzeit ganz unauffällig hätte beseitigt werden können? Stattdessen ein Attentat, das einen wahren Jahrmarktsrummel bewirkt? Wo bleibt da die Logik, wenn Russland ins Visier genommen wird?
ARD-aktuell fragte nicht im Büro der Premierministerin May nach: Was ist das Motiv, mit einem so kurzfristigen Ultimatum vorzugehen und nicht wenigstens abzuwarten, bis die beiden Opfer, Skripal und seine Tochter Julia, wieder aussagefähig sind, die derzeit angeblich noch im Koma liegen, deren Zustand aber "stabil" sein soll?
Die Nachrichtengestaltung der ARD-aktuell setzte nicht etwa den Akzent auf die geradezu überwältigende Fragwürdigkeit des britischen Vorgehens. Sie lieferte vielmehr das Bild von einem Giftanschlag, der einen russischen Ex-Agenten und dessen Tochter traf, mit "offenkundig" russischem Spezialgift ausgeführt wurde und für den wahrscheinlich Russland – genauer: natürlich Putin – verantwortlich ist.
Die übliche Propagandaschablone also.
Den Programmgrundsätzen und -richtlinien des Staatsvertrags angemessener Journalismus sieht anders aus als solche Qualitätsprodukte der ARD-aktuell.
Mit freundlichen Grüßen
Volker Bräutigam, Friedhelm Klinkhammer
(Hinweis der Redaktion: Die Programmbeschwerde bezieht sich auf diesen und diesen Beitrag.)