Werte Genossen!
ich weiß, Euch bedeutet mein Name schon seit langem nicht mehr als ein Lippenbekenntnis. Meine Theorien habt Ihr vor langer Zeit über Bord geworfen, stattdessen habt Ihr Euch immer mehr an die herrschenden Verhältnisse angepasst. Trotzdem muss ich mich an Euch in ernsthafter Sorge über die Zukunft der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands wenden, da ich, wenn auch aus der Ferne, mithalf, diese Partei aufzubauen. Ich kann nicht schweigen, während Ihr sie endgültig in den Ruin treibt.
In den dreißig Jahren, nachdem ich diese Welt im Jahr 1883 verließ, konnte die SPD ihren Stimmenanteil von 6 auf 35 Prozent im Jahr 1912 steigern. In den vergangenen zwanzig Jahren habt Ihr diesen Erfolg und die traditionsreiche Partei fast aufgerieben. Während Ihr Euch früher ernsthaft die Sorgen der arbeitenden Bevölkerung – trotz einiger tiefgreifender Fehltritte – annahmt, scheint die SPD jetzt nur noch den Erwerb von Pöstchen und Macht zu betreiben.
Unter Schröder gelang der SPD das wenigstens noch, obgleich es zum geistigen Konkurs der Sozialdemokratie führte. Doch seit dem Jahr 2005 manövriert Ihr Eure Partei nur noch von einer Krise zur nächsten. Kaum habt Ihr den Scherbenhaufen einer Patsche aufgeräumt, tretet Ihr schon ins nächste Fettnäfpchen.
Die Partei, auf die sich der Arbeiter einst – seit 1914 mit einigen Vorbehalten – verlassen konnte, ist zur Partei der rhythmischen Kehrtwenden geworden. Im Vergleich zur SPD-Elite der letzten 20 Jahre erscheinen Bernstein, Ebert und sogar Noske als konsequente Marxisten!
Gestern wart Ihr gegen die GroKo, heute seid Ihr für sie. Vorgestern wollte Schulz kein Ministerposten annehmen, gestern sollte er zum Außenminister werden, heute hat er es sich wieder anders überlegt. Vorgestern sollte Nahles ihn ablösen, gestern doch wieder nicht; heute vielleicht, vielleicht auch nicht. Wie soll Euch da noch der Facharbeiter, die Kassiererin, der einfache Büroangestellte ernst nehmen? Einen besseren Plan für die politische Zerstörung der SPD hätten sich selbst Bismarck nicht erdenken können.
Während Deutschland nur darauf wartet, dass sich ein ernsthafter Herausforderer zu Merkels "alternativloser" Politik der Kleinstschritte zeigt, seid Ihr tüchtig damit beschäftigt, die SPD in den Abgrund zu fahren. Ihr betreibt keine Politik, sondern einen Politikzirkus, bei dem der Hauptakt der Clown Schulz mit den tausend Gesichtern ist. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass August Bebel oder Wilhelm Liebknecht solche Lachnummern vollzogen hätten?
Jetzt möchtet Ihr die Groschenroman-Expertin Nahles zur letzten Hoffnung der SPD küren. Eine inhaltliche Wende ist jedoch nicht zu erkennen. Denkt Ihr etwa, Ihr kommt aus Eurer Krise wieder raus, indem Ihr einfach das Spitzenpersonal im Jahrestakt austauscht? Ihr hättet Euch ein Beispiel an der Labour Party nehmen sollen, die mit Jeremy Corbyn nicht nur eine personelle, sondern auch zumindest teilweise eine politische Wende wieder hin zu den arbeitenden Massen vollzogen hat. Das Resultat: Die britischen Sozialisten konnten sich von 30 Prozent in den Umfragen auf über 40 steigern.
Doch Euch ist die Schrödersche Agendapolitik und die NATO-Treue dermaßen in Fleisch und Blut übergegangen, dass Ihr gar nicht mehr in der Lage seid, über Alternativen nachzudenken. Bestenfalls präsentiert Ihr den Wählern einfallslose Nachbesserungsvorschläge an den Agenda-Reformen. Keiner erwartet mehr von Euch sozialrevolutionäre Sturmreden, doch müsst Ihr Euch zumindest davon befreien, ständig in die Rolle des Klempners des Kapitalismus zu schlüpfen. Sonst ist Euer kollektiver Selbstmord nicht mehr aufzuhalten.
Mit begrenzt solidarischen Grüßen,
Euer Karl Marx