Die Alice Solomon Hochschule in Berlin: Feminismus als Terror

Die Alice Salomon Hochschule in Berlin will ein Gedicht an ihrer Fassade übermalen. Das Gedicht "avenidas" des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer könne Frauen gegenüber als diskriminierend aufgefasst werden. Ein Lagebericht aus der Hölle des politischen Korrekten.

von Timo Kirez

Von Lenin soll der Satz stammen, dass man in einem Handgemenge nicht absehen könne, welcher Schlag noch nötig und welcher eigentlich schon zu viel sei. Lenin dachte bei diesem Satz vermutlich an die Irrungen und Wirrungen während der Oktoberrevolution. Doch er lässt sich mittlerweile auch ganz gut auf den aktuell tobenden Geschlechterkampf - wobei Geschlechterkrampf korrekter wäre - anwenden.

Schon in der sogenannten "#MeToo-Kampagne" über Sexismus und sexuelle Übergriffe, die mittlerweile auch in Deutschland angekommen ist und mit dem Regisseur Dieter Wedel ein prominentes Zielobjekt gefunden hat, schwang etwas mit, was nicht wenigen als eine neue Form des Totalitarismus erschien. Es ist keine Frage, dass Missbrauch und Übergriffe geahndet werden müssen. Doch die deutsche Schriftstellerin Thea Dorn hat nicht unrecht, wenn sie in einem Interview mit Deutschlandfunk Kultur sagt:

Das ist ein neuer Totalitarismus, der da heraufzieht, ein moralischer [...] Das ist spießiger und furchtbarer als der Geist der 50er und 60er.“

Auch die französische Schauspielerin Catherine Deneuve musste sich kritisieren lassen, weil sie es gewagt hatte, in einem offenen Brief mit weiteren Unterzeichnerinnen unter anderem zu schreiben:

Dieses Fieber, die "Schweine" zur Schlachtbank zu führen [...] dient in Wahrheit den Interessen der Feinde sexueller Freiheit, der religiösen Extremisten, der schlimmsten Reaktionäre und derjenigen die meinen [...], dass Frauen 'besondere' Wesen sind, Kinder mit Erwachsenengesicht, die nach Schutz verlangen.“

Wie richtig Dorn und Deneuve liegen, belegt nun der Vorfall an der Berliner Hochschule Alice Salomon. Trotz nationaler wie auch internationaler Kritik will die Hochschule ein angeblich sexistisches Gedicht an ihrer Fassade übermalen. In einem Offenen Brief hatte sich der Allgemeine Studierendenausschuss (Asta) der Hochschule im vergangenen Jahr dafür ausgesprochen, das Gedicht von der Fassade zu entfernen. Denn es reproduziere "nicht nur eine klassische patriarchale Kunsttradition, in der Frauen ausschließlich die schönen Musen sind, die männliche Künstler zu kreativen Taten inspirieren", sondern erinnere "zudem unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind". 

Ferner heißt es in dem Brief:

Zwar beschreibt Gomringer in seinem Gedicht keineswegs Übergriffe oder sexualisierte Kommentare, und doch erinnert es unangenehm daran, dass wir uns als Frauen nicht in die Öffentlichkeit begeben können, ohne für unser körperliches ,Frau-Sein‘ bewundert zu werden. Eine Bewunderung, die häufig unangenehm ist, die zu Angst vor Übergriffen und das konkrete Erleben solcher führt."

Der Akademische Senat beschloss nun am Dienstag mehrheitlich, das Gedicht zu entfernen. Gomringers Gedicht aus dem Jahr 1951 steht seit 2011 in großen Lettern auf der Südfassade der Hochschule im Stadtteil Hellersdorf. Mit der Aktion sollte die Vergabe des Alice Salomon Poetikpreises an den Lyriker gewürdigt werden. Bei einer Fassadenrenovierung im Herbst soll nun stattdessen ein Text der letztjährigen Preisträgerin Barbara Köhler angebracht werden, wie von ihr selbst vorgeschlagen. In fünf Jahren käme dann erneut ein Wechsel.

Der Dichter Eugen Gomringer selbst kritisierte die Entscheidung. "Das ist ein Eingriff in die Freiheit von Kunst und Poesie", sagte der 93-Jährige gegenüber der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Er behalte sich rechtliche Schritte vor. Der Deutsche Kulturrat, Spitzenorganisation von 250 Bundeskulturverbänden, reagierte "erschüttert". Der Fall hatte bereits im letzten Jahr für internationale Aufmerksamkeit gesorgt. Nicht nur das Deutsche PEN-Zentrum und der Kulturrat warnten vor Zensur.

Der Geschäftsführer des Kulturrats, Olaf Zimmermann, sagte gegenüber der dpa:

Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass eine Hochschule, die selbst Nutznießer der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit ist, dieses Recht dermaßen mit Füßen tritt."

Es geht übrigens um dieses Gedicht, das in seiner spanischen Originalversion an die Fassade geschrieben wurde:

Alleen/Alleen und Blumen/Blumen/Blumen und Frauen/Alleen/Alleen und Frauen/Alleen und Blumen und Frauen und/ein Bewunderer"

Der Dichter Eugen Gomringer, den die NZZ als den "Letzten von den großen Gründergestalten unserer Nachkriegsmoderne" bezeichnete, gilt als Erfinder der konkreten Poesie und stand bisher nicht im Verdacht, Frauen "unangenehm an ihr körperliches Frau-Sein" erinnern zu wollen. Die Berliner Hochschule verteidigte ihre Entscheidung dennoch. Und zwar mit folgenden Worten, die jedem Surrealisten zur Ehre gereichen würden: Das Votum gegen das Gedicht sei "ein klares Bekenntnis zur Kunst", so Rektor Uwe Bettig am Dienstag.

Bei einer Online-Abstimmung hatten sich die Hochschulangehörigen Ende 2017 mit Mehrheit gegen das Gomringer-Gedicht ausgesprochen. Die Hochschule teilte mit, sie werde Gomringers Wunsch nachkommen und auf "einer Tafel" auf Spanisch, Deutsch und Englisch an das Gedicht und die Debatte darum erinnern. Der Lyriker selbst hat dafür "drei Plakate" gefordert.

Doch die Frage muss schon gestattet sein, inwiefern Bewunderung überhaupt herabsetzend sein kann. Oder anders gefragt: Wie viel Paranoia braucht es, um in dieses unfassbar harmlose Gedicht, eine Bedrohung der Frauenwürde hinein zu interpretieren? Man(n) ist doch mittlerweile immer öfter fassungslos, wie es die Apologeten des politischen Korrekten schaffen, ein Klima des Misstrauens und der Ambivalenz selbst dort zu schaffen, wo andere, in Anlehnung an Sigmund Freud, schlichtweg nur eine Zigarre sehen.

Dieser Art von Sprachterror passt in eine Zeit, in der aus alten Filmplakaten nachträglich Pfeifen herausretuschiert werden, denn Rauchen ist ja bekanntlich schädlich. Hier geht es mitnichten um ein emanzipatorisches Projekt, sondern einzig und allein um die Unterwerfung von allem unter eine Doktrin der Hypersensibilität und die Befindlichkeiten einiger weniger. Was jedoch dabei vergessen wird: Eine emanzipatorische Bewegung, die den Namen verdient, bricht Tabus – sie schafft keine neuen.

Wir sind vermutlich nicht weit davon entfernt, dass kleine, mit Scheren bewaffnete, Guerilla-Trupps Bibliotheken und Museen stürmen und alles aus- und herausschneiden, was auch nur im Entferntesten unter Diskriminierungsverdacht stehen könnte. Vermutlich wird es demnächst auch Checklisten geben, die dafür sorgen, dass Männlein und Weiblein "diskriminationsfrei anbändeln." Kein Kompliment über die Augen gemacht – check! Nicht in den Mantel geholfen – check!

Vielleicht sollte die Alice Salomon Hochschule das Gedicht einfach umschreiben und neu an die Wand pinseln:

Alleen*innen/Alleen*innen und Blumen*innen/Blumen*innen/Blumen*innen und Frauen*/Alleen*innen/Alleen*innen und Frauen*/Alleen*innen und Blumen*innen und Frauen* und/ein Bewunderer*innen“

Und wenn Sie, lieber geneigter Leser, das nächste Mal auf einer Allee einer Frau begegnen, die zufällig Blumen bei sich trägt, dann beißen Sie sich bitte auf die Zunge und denken Sie an ein weiteres Gedicht von Eugen Gomringer:

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