Der letzte Verhandlungstag zwischen Union und SPD endete nach über 24 Stunden. Das Ergebnis ist ein 28-seitiges Sondierungspapier. Eine einsatzfähige Regierung wird es frühestens im April geben, wenn der Sonderparteitag der SPD am 21. Januar und die Befragung der SPD-Mitglieder im März grünes Licht geben. Die Reaktionen in der hiesigen und ausländischen Presse:
Stuttgarter Zeitung:
Die Bürger erhielten ein ordentliches Paket, das kaum eine gesellschaftliche Baustelle auslässt. Und doch findet sich im Sondierungspapier kein einziges Vorhaben, das mehr wäre als die Fortschreibung der bestehenden Politik, etwas Mutiges, Überraschendes gar, das als Aufbruchssignal taugen könnte - obwohl viel von Zukunft die Rede ist. Das Programm für mehr bezahlbaren Wohnraum erhält kaum mehr Geld, die allseits versprochene Einkommensteuersenkung fällt aus. Die große Koalition denkt wiederholt zu klein. Das gilt gerade für die Europapolitik. Sicher wäre es gut, wenn Deutschland im politisch aufgewühlten Europa eine zuverlässige Regierung bekäme. Die Groko-Partner müssten aber mehr gegen den Überdruss im Innern unternehmen, der Europa auf Dauer genauso destabilisiert.
Frankfurter Rundschau:
Lieblingsprojekte wie die Bürgerversicherung oder höhere Steuern für diejenigen mit sehr hohen Einkommen und auch die vom SPD-Vorsitzenden Martin Schulz im Wahlkampf immer wieder geforderte Abschaffung der sachgrundlosen Befristung konnten die Sozialdemokraten in den Sondierungsgesprächen nicht durchsetzen. Dennoch konnten sie zählbare Erfolge erzielen, die das Leben vieler Menschen verbessern können. Arbeitgeber sollen wieder genauso viel zur gesetzlichen Krankenversicherung beitragen wie Arbeitnehmer. Die Rente soll für alle stabilisiert werden. Doch es wird nicht ausreichen, um die SPD-Mitglieder von einem Bündnis zu begeistern, das viele von ihnen nicht mehr wollen. Die SPD-Führung hat also noch viel Arbeit vor sich, um die eigenen Mitglieder zum Mitmachen zu bewegen.
Berliner Tagesspiegel:
Wenn es so käme wie im vereinbarten Papier, wäre das Beste, was man von dieser Koalition am Ende der Legislaturperiode sagen könnte, dass sie eine Arbeitsregierung gewesen sei - und keine der Träume. Wenn es so käme, würden auch die Volksparteien das Vertrauen zurückgewinnen können, das die Wähler der CDU, der SPD und der CSU am 24. September so deutlich entzogen haben. Wenn dann noch Deutschland künftig wieder seine Verantwortung in Europa und in der Welt wahrnehmen würde - auch für den Willen dazu gibt es im Sondierungspapier ja klare Hinweise - könnte am Ende aus der Krise doch noch etwas Rettendes erwachsen.
Nürnberger Nachrichten:
Mit den beteiligten Akteuren war mehr wohl wirklich nicht machbar. Das Paket wäre eine Art Notlösung; es könnte den momentan noch erträglichen, auf längere Zeit jedoch unhaltbaren Zustand beenden, dass Deutschland ohne kräftige Regierung dasteht. Den Mut zum Regieren immerhin haben die Beteiligten aufgebracht - für mehr, für klügere, zukunftsfähigere, im Idealfall begeisternde Konzepte haben sie wohl weder den Mut noch die Ideen.
Ausland:
Der britische Guardian:
Zwar hat Angela Merkels konservativer Block aus CDU und CSU einen Koalitionsdeal mit der Mitte-Links-SPD von Martin Schulz erreicht. Aber es ist längst noch nicht sicher, dass dieser Deal Bestand haben wird. (...) Vieles wird davon abhängen, ob das vereinbarte Sondierungsdokument nach Einschätzung der SPD-Basis ihre Forderungen ausreichend genug berücksichtigt, um das im vergangenen Jahr weit verbreitete Gefühl überwinden zu können, dass die Partei besser in der Opposition aufgehoben wäre, als zum dritten Mal Juniorpartner einer von Merkel geführten Koalition zu sein.
La Republica, Italien:
Werden trotz einer gescheiterten Reichensteuer, der geplatzten Bürgerversicherung und einer viel restriktiveren Flüchtlingspolitik die erzielten Schritte ausreichen, um die Basis davon zu überzeugen, dass eine große Koalition hilft, linke Wählerstimmen zurückzugewinnen? Wenn ein Argument die Basis von einer Merkel-Regierung überzeugen kann, ist es das: Es wird die letzte sein.
El Mundo, Spanien:
Die christdemokratische Kanzlerin Angela Merkel und Sozialistenchef Martin Schulz haben gestern eine Einigung auf Verhandlungen über die Fortsetzung der großen Koalition erreicht, die den Deutschen die bis vor kurzem wahrscheinlich scheinenden Neuwahlen ersparen würde. Die Parteibasen werden das letzte Wort haben. Aber der Pragmatismus, der die Politik des europäischen Giganten seit jeher kennzeichnet, lässt vorhersagen, dass es weißen Rauch geben wird.
Die regierungsnahe türkische Zeitung Aksam schreibt:
Türkeifeindlichkeit ist der gemeinsame Punkt der Koalition geworden, die nach 110 Tagen gebildet werden konnte.
Neue Zürcher Zeitung:
Die Konturen des Koalitionsprogramms, auf die sich die Parteien verständigt haben, verweisen auf die fortgesetzte Verwaltung des Aufschwungs, auf ein paar Umverteilungsmanöver bei den Sozialversicherungen, ein paar Milliarden Euro mehr für Schulen und Kindergärten sowie einige neue, die Unternehmen belastende Rechtsansprüche für Arbeitnehmer. Viel mehr ist da nicht. Das Reservoir an Ideen und Projekten der großen Koalition hat sich schon in der letzten Regierungsperiode erschöpft. Für Zukunftsgestaltung fehlt die Kraft.
Nierderländischer Volkskrant:
Zweifellos sind jedoch viele von ihnen nicht glücklich mit einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration, zu der sich die künftige große Koalition bekennt. Die AfD, die drittgrößte Partei im Bundestag, dürfte daraus Argumente für eine kräftige Oppositionspolitik gewinnen. Selbst wenn der SPD-Parteitag am 21. Januar einer Regierung Merkel/Schulz den Segen erteilt, wirkt diese Koalition zerbrechlicher als alle bisherigen in der Ära Merkel seit 2005. Das Hauptverdienst dieser "Koalition, die niemand will" dürfte denn auch darin bestehen, dass sie "Neuwahlen, die niemand will" verhindert.
Österreichischer Standard:
Anders als bei den Jamaika-Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen waren die Sondierer diesmal äußerst schnell, hatten offenbar intern weniger Querelen als die erfolglosen Sondierer von Union, FDP und Grünen und legten dann auch noch ein Ergebnis vor. Getrieben hat sie nicht die Lust auf weitere gemeinsame schwarz-rote Jahre am Kabinettstisch, sondern die Angst vor Neuwahlen.