Ein Gastbeitrag von Dr. Hauke Ritz
Teil VII: Neoliberalismus - Der Streit um das Zivilisationsmodell des 21. Jahrhunderts
Der Kalte Krieg, daran kann kein Zweifel bestehen, ist durch eine politische Einigung beendet worden. Dies ist durch zahlreiche Aussagen führender Politiker der damaligen Zeit, wie z.B. Hans Dietrich Genscher und James Baker III., bestätigt worden.1 Dennoch wurde diese politische Einigung später von den USA als Sieg interpretiert. Und bei dieser verhängnisvollen Neuinterpretation mag die Kulturpolitik des Kalten Krieges eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben.
Denn wenn man damals zu jenem Kreis der Verantwortlichen gehörte, die das große Spiel spielten, nämlich Geopolitik zu planen, und wenn man unter ihnen sogar noch zu jenen gehörte, die sich nicht nur in Einzelbereichen auskannten, sondern über einen größeren Überblick verfügten, dann kannte man die Grundprinzipien westlicher Kulturpolitik.
Dann nämlich wusste man, dass die USA während des Kalten Krieges ganz gezielt eine „Nicht-kommunistische Linke“ im Westen aufgebaut hatten. Dann verstand man auch, dass es dem Westen mit der „Nicht-kommunistischen Linken“ gelungen war, die Kultur der westlichen Welt neu zu definieren. So sehr, dass das Weltbild dieser „Neuen Linken“ schließlich sogar im Moskauer Politbüro selbst, nämlich bei Gorbatschow, Zustimmung fand und als das „neue Denken“ bezeichnet wurde. Erwägt man all dies, dann wird vielleicht doch nachvollziehbar, warum die westlichen Geostrategen sich am Ende des Kalten Krieges allmächtig gefühlt haben müssen.
Vielleicht haben sich diese Verantwortlichen damals, wenn sie unter sich waren, heimlich zugeflüstert: „Wir haben den Kalten Krieg mit Hilfe der Linken gewonnen.“ „Wir haben die Ansprechpartner unseres Feindes zu unseren Verbündeten gemacht.“ „Wir haben die Linke so geschickt manipuliert, dass wir sie wie am Nasenring durch die Arena des Kalten Krieges ziehen konnten.“ „Und am Ende hat uns die Linke dabei geholfen, den Sozialismus – diesen alternativen Entwicklungspfad der Menschheit – für alle Zeiten von der Weltbühne zu vertreiben.“
Laut einem geflügelten Wort kommt der Appetit beim Essen. Als sich die westlichen Geostrategen nach 1991 unvermutet in einer ungeahnt mächtigen Position wiederfanden, überlegten sie, was sie als Nächstes tun könnten. Und natürlich kam der Gedanke auf, dass man das erfolgreiche Manipulationsinstrument, das man im Kalten Krieg entwickelt hatte, nicht so schnell wieder aus der Hand geben würde. Man würde die Themen der „Nicht-kommunistischen Linken“ weiterentwickeln. Man würde einen Staat schaffen, der sehr links und progressiv aussehen würde. Der aber auch gelernt haben würde, linke Ideale und linke Rhetorik für machtpolitische Ziele zu verwenden.
Darüber hinaus würde man die Kultur, die um die nicht-kommunistische neue Linke entstanden war, nutzen, um andere Länder kulturell auf den Westen auszurichten. Man würde das im Kalten Krieg entstandene Kulturmodell in die gesamte Welt exportieren. Insbesondere müsste Russland durch die Werte der „Nicht-kommunistischen Linken“ neu geformt werden. Das Land, das einst Träger eines alternativen Entwicklungspfades der Menschheit gewesen war, musste, koste es was es wolle, umerzogen werden. Es musste mit westlichen Minderheitsrechten, westlichem Feminismus, der westlichen Homobewegung und westlichem Atheismus "beglückt" werden. Und wenn sich das Land dagegen auch nur ein klein wenig wehren und auf dem Recht einer eigenen Kulturentwicklung beharren würde, dann würde man es wegen seiner Widerspenstigkeit sofort als das alte totalitäre Regime brandmarken.
So dachten damals vermutlich Teile der westlichen Eliten. Und sie sparten nicht mit Provokationen. An einer Demonstration von Homosexuellen in Moskau musste natürlich ein westlicher Politiker teilnehmen. Und dass dieser Marsch nicht auf dem Roten Platz stattfinden durfte, machte ihrer Ansicht nach nur deutlich, wie viel Russland noch vom Westen zu lernen hätte. Und natürlich habe es als Ausdruck von Kultur zu gelten, wenn eine Punk Band namens „Pussy Riot“ (Möxxx Aufstand) die Andacht in der Christ Erlöser Kathedrale stört, dem wichtigsten Gotteshaus Russlands. Solch eine Störung müsse willkommen geheißen und als Ausdruck von Demokratie begrüßt werden – alles andere sei Totalitarismus.
Denn die Think Tanks des Westens begannen in den frühen 1990er Jahren, die westliche Expansion auf dem eurasischen Kontinent zu planen. Schließlich befand sich hier in den Weiten Eurasiens der einzige geographische Raum, der über genügend Rohstoffe, Menschen, Industrie und sichere Handelswege verfügte, um so eine dauerhafte Unabhängigkeit vom Westen zu erreichen. Sollte in diesem Raum zwischen Moskau, Teheran und Peking die Entstehung eines neuen Machtzentrums jedoch verhindert werden, so musste dieser eurasische Großraum vom Westen erschlossen werden.
Dabei fügten die westlichen Geostrategen der Expansion neben der militärischen und ökonomischen Komponente auch eine kulturelle hinzu. So wie die NATO sich immer weiter nach Osten ausdehnen würde, so wie transnationale Konzerne die Ökonomien der ehemaligen Sowjetrepubliken immer stärker durchdringen würden, so würde auch die im Kalten Krieg entstandene Pop- und Lifestylekultur sich immer stärker in Russland und den Ex-Sowjetrepubliken verbreiten. Gleiches würde für China und Iran gelten. Der Westen wollte eine Art von kultureller Revolution in allen strategisch wichtigen Ländern Eurasiens durchsetzen, welcher dann der Neoliberalismus auf dem Fuße folgen würde. Erst kommen Pop und Lifestyle, dann die NGOs (Nichtregierungsorganisationen), schließlich der IWF und der ‚Freie Markt‘ und am Ende die NATO.
Dabei ging man davon aus, je mehr sich die russische, iranische, chinesische Gesellschaft an der westlichen Pop- und Lifestylekultur orientieren würde, desto weniger sei das Zentrum Eurasiens noch zu einer unabhängigen Außenpolitik in der Lage. Man setzte deshalb in diesen Ländern auf eine schnelle Förderung jener Gesellschaftsgruppen, die für eine Integration in den Westen waren. Vor allem versuchte man junge Menschen, die sich von der Pop- und Lifestylekultur angezogen fühlten, in prowestliche Netzwerke einzubinden. Es ging darum, den Einfluss speziell dieser Gesellschaftsgruppe möglichst schnell zu erhöhen. Zu diesem Zweck gaben westliche Staaten viel Geld für Stiftungen und NGOs aus, die seit den 1990er Jahren in Russland, China sowie in vielen Ex-Sowjetrepubliken tätig sind.
Die Geldsummen, die dabei für NGOs ausgegeben wurden, waren sehr hoch. Allein in die Ukraine sind nach Auskunft von Victoria Nuland (Referatsleiterin im US-Außenministerium) seit der Auflösung der Sowjetunion bis zu den jüngsten Protesten auf dem Maidan in Kiew fünf Milliarden Dollar zur Förderung sogenannter „Demokratisierungsprozesse“ geflossen.2 Und in der Ukraine hat diese Unterstützung in der Tat zweimal dazu geführt, dass vom Westen favorisierte Regierungen dort an die Macht kamen, einmal 2004 und erneut 2014. 3 u. 4
Natürlich hatte der Westen kein wirkliches Interesse an der Ukraine. Er wollte von ihr weder Antonov-Flugzeuge noch Getreide kaufen. Der Regime-Change in Kiew wurde durchgeführt, um Russland einen wichtigen Handelspartner wegzunehmen.
Denn Russland ist neben China und Iran einer der drei Kernstaaten, die absolut entscheidend für jede eurasische Großraumordnung sind. Wäre es nämlich möglich, auch nur eines dieser drei Länder an die westliche Kulturentwicklung anzuschließen, sie sozusagen in die Rhythmik der westlichen Kulturprozesse mit einzubeziehen, so wären die Regierungen aller drei Länder langfristig nicht mehr in der Lage, eine gegenüber dem Westen unabhängige Außenpolitik zu betreiben. Eine Bevölkerung, die westliche Popstars anhimmelt und den westlichen Lebensstil nachahmt, kann nur noch schwer für eine gegen den Westen gerichtete Außenpolitik gewonnen werden.
Sollte der Westen tatsächlich mit dieser Kulturpolitik Erfolg haben, würde es ihm wirklich gelingen, auf dieser Basis eine prowestliche Ausrichtung der Politik in Russland zu erzwingen, so würde das sogenannte eurasische Herzland unter westliche Dominanz fallen. Selbst wenn China und Iran ihre Unabhängigkeit zunächst behielten, könnten sie in diesem Fall dennoch leicht geographisch eingekreist werden. Würde Russland vom Westen dominiert werden, so gäbe es in der ganzen Welt keinen geographischen Raum mehr, der unabhängig genug wäre, um ein zweites Zivilisationsmodell hervorzubringen. Es gäbe dann nur noch das westliche System.
Damit würde die Konkurrenz der Zivilisationen zum Erliegen kommen. Es gäbe nur noch einen Typus moderner Zivilisation und damit nur noch eine einzige Auslegung des europäischen Universalismus. Die Gefahr, dass eine solche Zivilisation totalitäre Tendenzen an den Tag legen würde, ist enorm groß. Zumal eine derart große Machtstruktur ja umso autoritärer regieren muss, je größer sie wird. Eine unipolare Weltordnung wäre nur auf Basis einer globalen Hierarchie möglich. Und sie würde wahrscheinlich auch die Etablierung einer globalen Ideologie notwendig machen, die sich dann zu ihrer eigenen Selbsterhaltung gegen regionale und nationale Traditionen richten müsste. Damit würde die westliche Zivilisation am Ende auch den universalen Anspruch verlieren, auf dem sie sich ursprünglich begründet hat.
Bedenkt man die Bedeutung Eurasiens, so ist es nicht verwunderlich, dass ähnlich große Summen, die für die „Demokratieförderung“ in der Ukraine ausgegeben worden sind, auch zur Beeinflussung der russischen, iranischen und chinesischen Gesellschaft investiert wurden. Dabei konnten die westlichen NGOs lange Zeit erstaunlich frei in Russland und China agieren. Erst in den letzten Jahren sind die Auflagen in diesen Ländern verschärft worden. Das National Endowment for Democracy musste Russland sogar verlassen und alle übrigen Stiftungen, die in Russland noch aktiv sind, müssen sich nun als ausländische Agenten anmelden.
Doch obwohl die westlichen NGOs wirklich viel Zeit hatten, ihre Programme zur Verbreitung der Werte der „Nicht-kommunistischen Linken“ in vielen eurasischen Ländern voranzubringen, sind die Resultate doch erstaunlich bescheiden. Statt dass ein wachsender Teil der dortigen Bevölkerung sich am Westen orientiert, nimmt die Distanz ihm gegenüber insbesondere in Russland und China zu. Und das hat auch damit etwas zu tun, dass die europäische Kultur längst nicht mehr so universalistisch ist, wie sich die Planer der unipolaren Welt dies vorgestellt hatten.
Natürlich stellen sich die Verantwortlichen in den westlichen Think Tanks nicht die Frage, worin der mangelnde Erfolg ihrer Kultpolitik begründet liegt. Dazu waren sie viel zu sehr von ihrer Mission eingenommen. Außerdem ist humanistische Bildung in diesen Kreisen heute leider nicht mehr sehr verbreitet. Doch ohne humanistische Bildung ist einem das Tor zur Vergangenheit verschlossen. Man lebt dann nur in der Gegenwart und partizipiert an ihren Übertreibungen. Jene westlichen Geostrategen in den Think Tanks waren nahezu alle Kinder der Gegenwart, sie kannten nur die Nachkriegszeit. Wenn ein Kritiker sie an das Erbe der Aufklärung erinnerte, wehrten sie eher müde lächelnd ab und fühlten sich überlegen.
Und so waren sie nicht in der Lage zu begreifen, dass ihr eigener manipulativer Zugriff auf Kultur das bedeutende Erbe des europäischen Universalismus langfristig beschädigen würde. Deshalb konnten sie auch keine Schlussfolgerungen aus ihren Fehlern ziehen. Je mehr der Export westlicher Pop- und Lifestylekultur versandete, desto aggressiver wurden die westlichen Kampagnen. Das übertriebene Auftreten westlicher Medien vor und während der Olympischen Winterspiele in Sotschi oder während des Streits um die Punk Band Pussy Riot machten der Welt schlagartig deutlich, dass 25 Jahre nach dem Mauerfall nun auch der Westen eine Ideologie hatte.
Wir stehen somit heute vor einem Paradox. Auf der einen Seite ist der europäische Universalismus nach wie vor als ein außergewöhnliches Potenzial der europäischen Kultur vorhanden. Denn keine außereuropäische Kultur ist zurzeit fähig, ein universales Zivilisationsmodell zu formulieren. Doch auf der anderen Seite wird das Erbe des europäischen Universalismus vom Westen selbst verraten und unterminiert. Die zunehmend synthetische Kulturentwicklung des Westens repräsentiert nicht länger das Erbe der Aufklärung. Auf diese Weise ist ein riesiges Vakuum entstanden. Und deshalb stellt sich die Frage, ob in der Welt Kräfte existieren, die dieses Vakuum füllen könnten.
Nun hat die Entwicklung der letzten Jahre deutlich gemacht, dass die in den 1990er Jahren von den USA entworfenen Pläne, den eurasischen Kontinent zu dominieren, gescheitert sind. Damit ist in der Welt tatsächlich ein geographischer Raum entstanden, der über genügend Rohstoffe, Menschen, Wirtschaftskraft und Handelsrouten verfügt, um eine langfristige Unabhängigkeit vom westlich dominierten Weltsystem zu erreichen. Militärisch hat Russland den Rüstungsabstand zum Westen fast eingeholt. China wird Moskau diesbezüglich bald folgen. Alle Versuche, Iran zum Übertritt ins westliche Lager zu bewegen, sind bislang gescheitert.
Zusammen besitzt das Dreieck Russland, China und Iran tatsächlich genügend Macht, um einen eurasischen Entwicklungsraum zu schaffen. China trägt mit seiner großen Wirtschaftsmacht dazu bei, dass die Drohungen des Westens, Sanktionen zu erlassen, immer weniger ernst genommen werden. Iran kann wie auch Russland Energierohstoffe liefern und verfügt zudem über großen Einfluss in den schiitischen Gebieten des Nahen Ostens und auch in der islamischen Welt als Ganzes. Und Russland stellt eine geographische Brücke zwischen Europa und Asien dar, verfügt selbst über unzählige Rohstoffe, hat eine gut ausgebildete Bevölkerung, kann andere Länder durch Waffenexporte aufrüsten oder direkt militärischen Schutz anbieten, besitzt zudem ein hohes Maß an langjähriger außenpolitischer Erfahrung und verfügt über eine historisch-kulturelle Identität, die eine unabhängige Außenpolitik ermöglicht.
Doch es ist eine Sache, über die notwendigen Rohstoffe und militärische Macht zu verfügen, und eine vollkommen andere, ein Zivilisationsmodell mit universaler Ausstrahlungskraft zu begründen. Wie muss man sich deshalb die weitere Entwicklung des asiatischen Raums vorstellen? Sicherlich werden Russland, China und Iran weiter ihre Unabhängigkeit gegenüber dem Westen verteidigen und sich dabei auch in Zukunft gegenseitig unterstützen. Dies verlangt allein schon die Tatsache, dass das westliche Zivilisationsmodell sein universalistisches kulturelles Erbe gegen einen partikularen geopolitischen Machtanspruch eingetauscht hat. Die Frage ist nur, wie dieser Kampf um Unabhängigkeit sich vollzieht? Rein passiv, durch den Ausbau militärischer und ökonomischer Kooperation? Oder offensiv, durch die Schaffung eines eigenen Zivilisationsmodells mit universaler Ausstrahlungskraft. Ist Letzteres überhaupt möglich? Betrachten wir hierzu die drei Länder einzeln.
Kommende Woche erscheint der achte Teil der Serie. Bisher erschien:
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 1
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 2
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 3
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 4
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 5
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 6
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 8
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 9
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 10
Die Logik des neuen Kalten Krieges – Teil 11
1. Youtube: Abmachung 1990: Keine Osterweiterung der NATO - Aussenminister Genscher & Baker
2. Victoria Nuland, Washington, DC, December 13, 2013, Remarks at the U.S.-Ukraine Foundation Conference
3. Peter Scholl-Latour, Russland im Zangengriff, Berlin 2007, S. 384 ff.
4. Paul Schreyer, Mathias Bröckers, Wir sind die Guten, Frankfurt 2014, S. 87 ff.