Die Erwartungen an einen wirtschaftlichen Neustart nach dem Regierungswechsel haben sich nicht erfüllt. Ein halbes Jahr nach dem Amtsantritt von Bundeskanzler Friedrich Merz zeigt sich, dass die strukturellen Schwächen der deutschen Volkswirtschaft tiefer reichen als angenommen. Die Konjunktur verharrt zwischen Stagnation und Rückgang, während die Zahl der Unternehmensinsolvenzen weiter zunimmt. Dies berichtet die Neue Zürcher Zeitung.
Ökonomische Forschungsinstitute sehen für das kommende Jahr lediglich eine leichte Erholung. Der Sachverständigenrat erwartet ein Wachstum des Bruttoinlandprodukts von 0,9 Prozent, die Commerzbank rechnet mit 1,2 Prozent. Diese Werte deuten jedoch auf keinen robusten Aufschwung hin.
Der private Sektor bleibt zurückhaltend, die Investitionsbereitschaft sinkt. Laut dem Mittelstands-Panel der Staatsbank KfW haben im Vorjahr lediglich 39 Prozent der mittelständischen Unternehmen Investitionsprojekte umgesetzt. Der Wert markiert beinahe den historischen Tiefpunkt.
Besonders sichtbar wird die wirtschaftliche Unsicherheit in der Unternehmenslandschaft. Der Kreditversicherer Atradius erwartet für 2026 bis zu 30.000 Insolvenzen, verglichen mit etwa 25.000 Fällen im laufenden Jahr. Die prognostizierten Forderungsausfälle könnten auf 65 Milliarden Euro steigen. Damit droht ein neues Rekordniveau, das sowohl Finanzierer als auch Lieferanten belastet.
Frank Liebold, Deutschlandchef von Atradius, verweist auf eine Kombination mehrerer Faktoren. Die verhaltene Inlandsnachfrage, gestiegene Zinsen, hohe Energiepreise sowie anhaltende Engpässe bei Rohstoffen und Vorprodukten setzen die Unternehmen unter Druck. Die daraus entstehende Polykrise trifft nahezu alle Branchen, besonders jedoch die Automobilzulieferer, die Metall- und Stahlindustrie sowie die Baubranche.
Die Energiewende treibt Deutschland in die Deindustrialisierung
Eine neue Studie von Frontier Economics im Auftrag der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) zeigt, wie stark die Energiewende die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands belastet. Der zentrale Befund lautet, dass Strom und Gas für Unternehmen hierzulande deutlich teurer sind als in wichtigen Konkurrenzländern. Setzt die Bundesregierung ihren Kurs fort, steigt das Risiko einer schleichenden Deindustrialisierung.
Mittelständische Unternehmen zahlen für Strom im Durchschnitt rund 55 Prozent mehr als ihre Wettbewerber in Frankreich und Spanien. Gegenüber den USA und China ist der Abstand noch größer. Kleine Betriebe mit geringem Verbrauch trifft es besonders hart, da sie im internationalen Vergleich ein Vielfaches zahlen. Auch Großverbraucher haben einen klaren Kostennachteil. Entlastungsmaßnahmen wie die geplante Senkung der Stromsteuer oder eine Deckelung der Netzentgelte ändern daran nur wenig.
Neben hohen Umrüstkosten belasten der Ausbau der Reservekapazitäten und der EU-Emissionshandel die Energiepreise zusätzlich. In der Studie wird davon ausgegangen, dass der Preis für eine Tonne Kohlenstoffdioxid bis 2045 ein Mehrfaches des heutigen Niveaus erreichen könnte. Unternehmen müssten gleichzeitig jährlich bis zu 24 Milliarden Euro investieren, ohne dass daraus zusätzliche Wertschöpfung entsteht. Kapital, das für Forschung und Innovation nötig wäre, fließt in die Defossilisierung.
Die höheren Energiekosten wirken entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Steigende Transportkosten führen zu höheren Verbraucherpreisen, was wiederum die Löhne und damit die Kosten der Unternehmen erhöht. Betroffen ist nicht nur die energieintensive Industrie. Besonders gefährdet sind Branchen, deren Produkte leicht ersetzbar sind wie Chemie, Grundstoffe, Lebensmittel und Rechenzentren.
Laut DIHK erwägen 37 Prozent der Industriebetriebe eine Produktionsverlagerung oder Einschränkung. In den USA und China investieren die Unternehmen dagegen kräftig. Einige Industrien in Deutschland stehen nach Einschätzung der Studienautoren vor der akuten Gefahr, die Energiewende wirtschaftlich nicht zu überstehen. Eine Abwanderung würde nicht nur Wohlstand kosten, sondern wegen niedrigerer Klimastandards im Ausland auch die globalen Emissionen erhöhen. Die Autoren empfehlen deshalb eine grundlegende energiepolitische Neuausrichtung.
Das Bundeswirtschaftsministerium meldete für Juli 2.197 Unternehmensinsolvenzen. Dies ist der höchste Monatswert seit Oktober 2013. Die amtliche Statistik bestätigt eine Entwicklung, die sich im gesamten Wirtschaftsgefüge bemerkbar macht. Strukturelle Herausforderungen, steigende Kosten und globale Unsicherheiten verstärken die Belastungen für die Betriebe.
Eine zusätzliche Einordnung liefert das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle. Für Oktober berichtet das Institut von einem Anstieg der Insolvenzen von Personen- und Kapitalgesellschaften um 1.553 Fälle. Das entspricht einem Zuwachs von fünf Prozent gegenüber dem Vormonat und 68 Prozent gegenüber den ökonomisch starken Jahren von 2016 bis 2019. Von den zehn größten Insolvenzen in diesem Zeitraum waren nahezu 13.000 Arbeitsplätze betroffen. Die Folgen reichen weit über die betroffenen Unternehmen hinaus und hinterlassen in vielen Regionen tiefe ökonomische Spuren.
Zwar signalisieren einige Frühindikatoren des Instituts eine vorübergehende Entspannung zum Jahresende, doch die Forscher warnen vor voreiligen Schlüssen. Ab Januar ist wieder mit einem deutlichen Anstieg der Zahlen zu rechnen.
Schweiz mit Rekord an Konkurseröffnungen
Auch in der Schweiz nimmt die Zahl der Unternehmenspleiten zu. Dun & Bradstreet berichtet von knapp 6.300 Konkurseröffnungen seit Jahresbeginn, ein Zuwachs von 40 Prozent gegenüber dem Vorjahr.
Neben dem konjunkturellen Umfeld spielt eine Änderung im Schuldbetreibungs- und Konkursgesetz eine wichtige Rolle. Öffentliche Gläubiger sind verpflichtet, ausstehende Forderungen über Konkursverfahren geltend zu machen. Die Reform soll für mehr Fairness und eine konsequentere Durchsetzung von Ansprüchen sorgen, erhöht aber kurzfristig die Zahl der Verfahren deutlich.
Das Gesamtbild zeigt eine Volkswirtschaft, die vor einer langwierigen Anpassungsphase steht. Trotz des politischen Wechsels fällt es schwer, Vertrauen und Investitionsbereitschaft im privaten Sektor zu stärken.
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