Im Südosten Nürnbergs, nicht weit vom Reichsparteitagsgelände entfernt, befindet sich der Südfriedhof. Dort gedenkt die Stadt Nürnberg der rund 5.000 zwischen 1939 und 1945 verstorbenen ausländischen Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeiter. Die weitaus größte Opfergruppe mit 3.500 Toten kam aus der Sowjetunion. Die Opfer sind meist in Massengräbern beigesetzt. Die Gefangenen starben an Kälte, Nahrungsmangel, mangelnder medizinischer Versorgung oder auch infolge von Bombenangriffen. Ihnen zum Gedenken legte die Gesellschaft für Deutsch-Russische Freundschaft e. V. einen Kranz nieder.
Den meisten heutigen Besuchern des Reichsparteitagsgeländes dürfte nicht bewusst sein, dass unweit der nationalsozialistischen Propagandabauten einst tausende Menschen litten und starben. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs 1939 wurde aus dem SA-Zeltlager am Bahnhof Märzfeld, das eigentlich die Besucher des "Reichsparteitags des Friedens" hätte aufnehmen sollen, ein Lager für Kriegsgefangene aus dem Polenfeldzug. Aber auch gefangene Soldaten aus Belgien und Frankreich wurden dort untergebracht, später zudem Serben, Italiener, US-Amerikaner und zivile Zwangsarbeiter.
Besonders schlecht wurden sowjetische Kriegsgefangene behandelt. In den Jahren 1941 und 1942 kam es zu einem regelrechten Massensterben. Die hungernden und frierenden Gefangenen aus dem "Russenlager" mussten bei Erdarbeiten auf dem zum Reichsparteitagsgelände gehörenden Märzfeld Schwerstarbeit leisten. Auch für die Rüstungsindustrie und bei der Beseitigung von Trümmern nach den Bombardierungen wurden sie eingesetzt. Und immer wieder kam es zu sogenannten Aussonderungen, ein Euphemismus für Selektionen in den Tod. Der überlebende Iwan Melnikow schildert eine solche "Aussonderung" im Nürnberger "Russenlager":
"Die Gestapo kam, man ließ uns mit dem nackten Oberkörper in Dreierreihen antreten und untersuchte unsere Hände, Gesicht, Hals und Augen. Wer ihnen verdächtig vorkam, der musste seine Hose herunterziehen. Sie suchten Juden und Leute mit intellektuellen Berufen. Es wurden circa 70 Mann ausgewählt und man führte sie ab, ich weiß nicht, wohin."
Heute weiß man, wohin die "Ausgesonderten" kamen: auf den SS-Schießplatz Dachau-Hebertshausen, wo sie von der SS exekutiert wurden – ein Ort, wo den russischen und weißrussischen Landsleuten der Ermordeten heutzutage in kleinlicher Häme ein würdiges Gedenken verwehrt wird (RT DE berichtete). 2.500 Insassen des Nürnberger "Russenlagers" sollen den Erschießungen in Dachau zum Opfer gefallen sein.
Das Ausmaß des Elends wird ausgerechnet in einem Brief eines Bewachers deutlich, den dieser an seine Familie geschickt hat. Der Wachsoldat Otto Madl hatte sogar ein Foto von verzweifelten Gefangenen, die auf einer Wiese nach Nahrung suchen, angefertigt und es mit "Russen beim Grasfressen" betitelt. Sogar Kannibalismus unter den Gefangenen schildert Madl seiner Ehefrau Cilly. "Ein Bild des Grauens und Schreckens", gesteht der Wehrmachtsangehörige in seinem Brief vom 7.12.1941 ganz offen ein. Zwischen Urlaubsplänen und (eher pessimistischen) Spekulationen über die Kriegsaussichten schreibt Madl:
"Die gefangenen Russen fallen nur um, dann sie tot. Die werden ganz nackt auf einen Wagen geworfen und abends werden sie eingegraben."
Und weiter, nach den Schilderungen des Hungerkannibalismus:
"Ich glaube, da herrscht Ruhr und Hungertyphus, sonst könnten nicht so viele sterben, die meisten werden ja erschlagen. Zwei von den Menschenfressern wurden gestern erschossen. Da könnt Ihr Euch nun ein kleines Bild machen, wie es zugeht, hier in diesem schönen Ort.Es sind nur kleine Beispiele, wie es zugeht, wenn die Menschen Hunger haben."
Bereits in seinem vorherigen Brief vom 2.12.1945 konnte Madl seine Cilly beruhigen:
"Du brauchst gar keine Sorgen zu haben, dass mir hier was passieren kann, die Russen können ja niemand was tun, weil sie zu matt sind."
Trotz der Entkräftung der Gefangenen gab es Widerstand. Der bereits erwähnte Iwan Melnikow schildert einen Aufstandsversuch, der allerdings aufgrund von Verrat scheiterte:
"Danach brachte man uns in die Nähe von Nürnberg in große weiße Zelte, circa 700 Personen. Wir wurden schlecht mit Essen versorgt und so fanden sich unter uns einige, die das Kommando übernahmen: Sie haben uns in Züge aufteilen und einen Aufstand machen wollen, indem wir ein Waffen- und Lebensmittellager beschlagnahmen und uns in die Berge nach Westen durchschlagen."
Und im Sommer 1944 gelang es tatsächlich zwei Rotarmisten mit der Hilfe deutscher Arbeiter zu fliehen und bis zur Befreiung bei Partisanen in den Karpaten unterzutauchen.
Nach dem Krieg und der Befreiung des Lagers durch die US-Amerikaner am 17. April 1945 ging das Sterben zunächst weiter. Besonders unter den sowjetischen Gefangenen grassierte der Typhus. Viele hatten auch sogenannte "Evakuierungsmärsche" in den Süden Bayerns mitmachen müssen. Die völlig entkräfteten Gefangenen erlebten die Rückkehr in die Heimat nicht mehr oder mussten zunächst wochenlang medizinisch betreut werden, bevor sie in die Sowjetunion zurückkehren konnten.
Heute erinnert in Nürnberg (abgesehen von Infosäulen und Gedenktafeln) nichts mehr an das einstige "Russenlager". Nach dem Krieg wurden auf dem Lagergelände deutsche Gefangene, hauptsächlich SS-Männer, gefangen gehalten (der Schauplatz der Nakam-Aktion); später lebten dort Displaced Persons im sogenannten Valka-Lager, vor allem Esten und Letten. Und in den Wirtschaftswunderjahren entstand schließlich die heutige Trabantenstadt Nürnberg-Langwasser. Auch medial ist das Thema wenig aufbereitet worden. Während die Nakam-Episode verfilmt wurde und es Dokumentarfilme über das Valka-Lager gibt, fehlt eine entsprechende filmische Würdigung beispielsweise des Lagerausbruchs der Sowjetsoldaten.
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