In Russland wird darüber nachgedacht, warum im Westen und in den westlichen Ex-Sowjetrepubliken Umdenken in Bezug auf die Ursachen und Folgen des Zweiten Weltkrieges stattgefunden hat. Laut der renommierten Historikerin Jelena Malyschewa wird vor allem Russland und sein historisches Gedächtnis dabei angegriffen. Malyschewa leitet das Nationale Zentrum für historisches Gedächtnis beim russischen Präsidenten. Ihr zufolge liegen die Gründe dafür in Unvollständigkeit des Nürnberger Prozesses. Dies sei auch die Grundlage für die heutige Weltlage.
"Die Auseinandersetzung mit den Lehren aus Nürnberg heißt nicht nur, die Bedeutung seiner Entscheidungen für die Entwicklung der Normen des Völkerrechts und die Verurteilung des Nationalsozialismus festzuhalten, sondern auch, seine Unvollständigkeit zu verstehen, um die Ursprünge der heutigen Situation zu begreifen. Die gezielten destruktiven Angriffe, die heute gegen unser Land und unser historisches Gedächtnis gerichtet sind, haben ihre Wurzeln in der Unvollständigkeit von Nürnberg",
sagte die Historikerin im Interview mit der Tass.
Ein Beispiel für derartige Unvollständigkeiten ist aus ihrer Sicht die Nichtverurteilung der Wehrmacht. Die Weigerung des Nürnberger Tribunals, die Wehrmacht zu verurteilen, ermöglichte in der weiteren Geschichtsschreibung, das Bild unschuldiger deutscher Soldaten zu schaffen, sie mit sowjetischen Bürgern gleichzusetzen und damit die Rolle der Sowjetunion beim Sieg über den Nationalsozialismus zu schmälern.
"Nürnberg konzentrierte sich in seiner Anklage ausschließlich auf die SS und betrachtete die Verbrechen der deutschen Streitkräfte – der Wehrmacht – nicht als strafbar", erläuterte sie auf die noch in den 1990er Jahren verbreitete Auffassung hin, wonach die Wehrmacht unschuldig und harmlos gewesen sei. Soldaten der Wehrmacht wurde sogar Mitgefühl entgegengebracht, was sie mit dem sowjetischen Volk gleichsetzte. "Dies lenkte von der Wahrheit ab und ermöglichte, den Charakter des Krieges zu revidieren und damit die Rolle der Sowjetunion zu schmälern", so die Historikerin. Malyschewa schloss:
"Das heißt, die Unvollständigkeit von Nürnberg in Bezug auf die Feststellung der Taten der Soldaten der deutschen Armee als kriminell und die Nichtverfolgung ihrer Verantwortung nach so vielen Jahren ermöglichte es, dies für geopolitische Zwecke zu nutzen und die Rolle der Sowjetunion und der Roten Armee beim Sieg über den Nationalsozialismus zu schmälern.
Auf einem Symposium in Berlin in der ersten Novemberhälfte wurden die Wege zur umfassenden Umgestaltung der sowjetischen Ehrenmale und Gedenkstätten in Deutschland diskutiert – RT DE berichtete. Diese wurden unzulässiger Propaganda und Desinformation verdächtigt. Die Leiterin des Ukrainischen Kulturinstituts, die das Treffen mitinitiiert hat, beschimpfte dabei Menschen, Russen und Deutsche, die sich zum Gedenken am Tag des Sieges über den Hitler-Faschismus versammelten. Der russische Botschafter Sergei Netschaew erkannte in der Diskussion vandalistische Absichten und warnte die deutschen Behörden davor.
Auch das Verhalten des deutschen Botschafters in Russland, Alexander von Lambsdorff, ist bemerkenswert. Bei einer Gedenkzeremonie am Volkstrauertag in Moskau verzichtete er auf Erwähnung der 27 Millionen sowjetischen Opfer des Krieges und des Beitrags der Roten Armee bei der Zerschlagung der braunen Pest. Stattdessen bezichtigte er sein Gastland zum wiederholten Male der Aggression und des Imperialismus. Die Sonderoperation in der Ukraine sei definitiv keine Fortsetzung des Kampfes gegen den Faschismus. Das sei nur ein Vorwand, um Russlands imperialistisches Vorgehen zu verschleiern.
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