Ex-Spitzenpolitiker der Grünen zum Ukraine-Konflikt: "Heuchelei und Doppelmoral des Westens""
In einem bemerkenswerten Interview hat sich der Grünen-Politiker und ehemalige Staatsminister im Auswärtigen Amt, Ludger Volmer, zum Ukraine-Konflikt geäußert. Während einige seiner Parteikollegen zu den aktivsten Scharfmachern zählen, offenbart Volmer eine außerordentlich differenzierte Sicht auf die Konfrontation zwischen Russland und der NATO. Volmer bezeichnet die Ereignisse im Februar 2014 explizit als Putsch und warnt vor weiterer Eskalation.
Ludger Volmer, von 1998 bis 2002 unter dem damaligen Außenminister Joschka Fischer Staatsminister in dessen Ministerium, wurde vom Deutschlandfunk für ein Telefoninterview zum Ukraine-Konflikt geladen. Die Fragen, denen sich Volmer dabei konfrontiert sah, sind alles andere als frei von Suggestion. Umso interessanter sind die Antworten des ehemaligen Spitzenpolitikers. Volmer bekräftigt, dass es sich beim ukrainischen Regierungswechsel vor rund einem Jahr um einen Putsch handelte und kritisiert scharf die Doppelmoral des Westens während des andauernden, und nach Volmers Sicht sich zuspitzenden, Konflikts.
Schon bei der Begrüßung durch den Deutschlandfunk-Moderator Dirk Müller (bei dem es sich nicht um den bekannten Finanzexperten gleichen Namens handelt) zeigt sich, welche Richtung eingeschlagen werden soll. Weil es offenbar besser in das Narrativ passt, das Müller anstrebt zu verbreiten, entscheidet dieser sich dazu, wesentliche Teile des Ukraine-Konfiktes auszuklammern und verkündet überzeugt: "Angefangen hat alles mit der Krim und mit der Krise in der Ukraine." Volmer ist alles andere als optimistisch, hinsichtlich der weiteren Entwicklung und sieht den Beginn eines neuen Kalten Krieges, der auch in einer neuen nuklearen Konfrontation münden könnte.
Die darauf folgende Frage des Moderators lautet in suggestiver Form: "Suchen wir nach den Schwarzen Schafen. Hat der Kreml mit allem angefangen?". Und damit beginnt der interessante Teil des Gesprächs. Auffällig ist: Volmer spricht, anders als viele Scharfmacher unter denen sich auch Grüne wie Rebecca Harms und Marieluise Beck befinden, nicht von einer "Annexion" der Krim sondern kritisiert lediglich deren temporäre Besetzung durch Russland. Ein Unterschied, der zunächst unbedeutend wirken mag, jedoch weitreichende Konsequenzen hat. De facto hat Russland niemals die Krim "annektiert", vielmehr fand auf der Halbinsel eine Volksabstimmung statt, bei der 95,5 Prozent der abgegebenen Stimmen für die Wiedervereinigung der Krim mit Russland, mit allen Rechten und Pflichten eines Subjekts der Russischen Föderation, votierten. Um die Durchführung des Referendums zu gewährleisten, waren russische Truppen auf der Krim anwesend. Es fiel kein Schuss, niemand kam zu Schaden.
Dennoch versuchen westliche Meinungsmacher seit über einem Jahr diesen Vorgang quasi als eine Art Schwerstverbrechen umzudeuten, als massiven Bruch des Völkerrechts, gleich eines Massakers oder Genozids. Der Begriff "Annexion" wird dabei besonders penetrant eingesetzt, was einen einfachen Hintergrund hat: Eine tatsächliche Annexion ist neben einem Völkermord der einzige Grund, der anderen Staaten das Recht gibt, militärisch einzugreifen. Dies erklärte auch schon die ehemalige ARD-Journalistin Gabriele Krone-Schmalz:
Auch weist Volmer darauf hin, dass die Krim-Krise keineswegs der Anfang "von allem" war, sondern, dass dieser Streitfrage natürlich ein Putsch im politischen Zentrum der Ukraine voranging. Der Grünen-Politiker wirft dem Westen dabei Doppelmoral vor.
Während die Bevölkerung der Westukraine dafür gefeiert wird, dass sie Wiktor Janukowytsch aus dem Amt gejagt hat, wird der Bevölkerung der Ostukraine vermittelt, ihr Wunsch bei diesem Kurswechsel nicht mitmachen zu wollen, sei illegitim.
Volmer spricht aus, was seine Partei-Kollegen und andere "NATO-Versteher" gerne versuchen zu ignorieren: Die Beteiligung organisierter Neonazis beim Kiewer Putsch.
"Wir im Westen nennen das demokratische Erneuerung, weil Demokraten diesen Putsch gemacht haben, allerdings in Verbindung mit vielen rechtsradikalen und nationalistischen Elementen."
Auf die erneute Nachfrage Müllers, ob sich in der Ukraine tatsächlich ein Putsch ereignet habe, bekräftigt Volmer:
"Das war eine Revolution. Die hat eine gewählte Regierung aus dem Amt gejagt. Die gewählte Regierung war bestimmt schlecht, und es gab viele gute Gründe, sie loswerden zu wollen. Aber wenn eine Revolution von der Straße eine Regierung davonjagt, die vorher demokratisch gewählt worden war, was soll das sonst sein? Der Westen redet sich das gerne schön.
Wenn dann aber ein anderer Teil des ukrainischen Volkes, nämlich die Ostukraine nicht mitmachen will und wiederum aus dem neuen ukrainischen Staatsverband austreten will, dann gilt das als illegitim, und das ist die Heuchelei und die Doppelmoral der westlichen Politik."
Auch den generellen Umgang der NATO-Staaten mit Russland kritisiert der ehemalige Staatsminister scharf. Im Grunde liege ein klassisches Sicherheitsdilemma vor, das eine zunehmende Eskalationsspirale in Gang setzt. Volmer nimmt hier Bezug auf eine Konstruktion in der Spieltheorie. Mit dem Sicherheitsdilemma, ähnlich dem Gefangenendilemma, wird ein Akteurs-Modell bezeichnet, bei dem zwei Spieler das Schlechteste vom jeweils anderen annehmen und deshalb eine sich selbst erfüllende konfliktive Prophezeiung erzeugen. Wikipedia dazu:
"Das Sicherheitsdilemma bezeichnet eine paradoxe Situation, in der das Beharren mehrerer Staaten auf ihren sicherheitspolitischen Interessen und ihr dementsprechendes Handeln letztendlich zu einer verstärkten politischen Instabilität führt. Unter Umständen mündet dieses Verhalten in Kriege, sodass das Ergebnis der Situation der Absicht aller beteiligten Akteure, mehr Sicherheit herzustellen, widerspricht."
Für das Dilemma gibt es in der Spieltheorie allerdings auch veritable Lösungsmuster, die da lauten: Kommunikation, Vermittlung, Mediation, Dialog. Umso wichtiger ist es für die Scharfmacher und eskalierenden Kräfte des Konflikts, Kommunikationskanäle zwischen den Konfliktparteien zu stören, Misstrauen zu sähen und ein Klima der Isolation zu schaffen. Volmer, nach seiner Kritik an Russland, dazu:
"Man muss allerdings auch sagen, dass starke Kräfte im Westen, insbesondere in den USA, diese Partnerschaft nicht wollten. Im Übergang von der Clinton- zur Bush-Regierung haben sich Kräfte durchgesetzt, die gesagt haben: Nachdem die Sowjetunion nun einmal gestürzt ist, werden wir Russland so stark schädigen, dass es sich nie mehr erholen kann. Und diese Kräfte sind leider heute immer noch wirksam in den USA."
Der Subtext von Volmers Aussagen ist eigentlich eindeutig: Russland und Europa sollten den kommunikativen Austausch stärken, sofern sie verhindern wollen, dass sich ein neuer Kalter Krieg manifestiert aus dem dann vielleicht auch ein heißer wird.