Gedenkkultur à la BRD – Niederschlagung von Volksaufständen nur im Osten?
Zahlreiche Artikel erinnern heute an den "Arbeiteraufstand des 17. Juni 1953" in Ostberlin. Dass jedoch in den Nachkriegsjahren im Westen Deutschlands alliierte Besatzungstruppen Streiks und Aufstände ebenso niederhielten und demokratische Abstimmungen per US-Besatzerdekret verboten wurden, findet kein Echo.
von Florian Warweg
Es mutet zumindest verwunderlich an, dass der Arbeiteraufstand des 17. Juni in der Bundesrepublik alle Jahre gefeiert wird, eingedenk der Tatsache, dass der Arbeitsgerichtspräsident und vorherige Nazi-Jurist, Hans Carl Nipperdey, Anfang der 1950er-Jahre alle Formen des politischen Streiks in der Bundesrepublik grundsätzlich verbieten ließ.
Dieses Verbot hat seinen Ursprung in dem einzigen Generalstreik, der im Herbst 1948 die "Westzone" erschütterte und von den Alliierten ähnlich beantwortet wurde wie der 17. Juni 1953 von den sowjetischen Besatzern. Mit einem Unterschied, wie Ruth Berger in einem Telepolis-Artikel mit dem Titel "Einseitiges Gedenken zum 17. Juni und die Kellerleichen der westdeutschen Demokratie" ausführt. Im Gegensatz zu den Ereignissen von 1953 in der sowjetischen Zone griff die US-amerikanische Besatzungsmacht sofort mit Panzern und Tränengaskanonen ein. Im Falle des 17. Juni hatten die sowjetischen Truppen zunächst eine Woche die Entwicklungen und Unruhen passiv verfolgt, bevor die Panzer zum Einsatz kamen.
Ausgerechnet als Folge der Währungsreform unter dem in der bundesdeutschen Geschichte stark verklärten Ludwig Erhard gab es im Herbst 1948 den einzigen Generalstreik, den das Nachkriegs-Westdeutschland je erlebt hat. Dieser wurde jedoch vom politischen Establishment und den Besatzungsmächten als derart bedrohlich wahrgenommen, dass kurz nach Gründung der Bundesrepublik der Generalstreik als politisches Mittel der Gewerkschaften grundsätzlich verboten wurde.
Die Arbeiterproteste und Massenstreiks 1948 richteten sich vor allem gegen die massiven Preiserhöhungen. Bedingt durch die Freigabe der meisten Preise gab es zwar alles, was das Nachkriegskonsumentenherz nur begehren konnte, doch waren die Preise nach Währungsreform und Marktliberalisierung so hoch, dass sich der durchschnittliche Lohnarbeiter oder kleine Angestellte kaum etwas von diesem Warenangebot leisten konnte. Und vor vollen Schaufenstern darbt es sich bekanntlich noch schwerer als vor leeren.
Diese Tendenz führte zu einem beachtlichen Treppenwitz der deutschen Nachkriegsgeschichte. Es waren die Protestierenden im Westen, die lauthals Verstaatlichung und Demokratisierung der Betriebe sowie Rückkehr zur Planwirtschaft forderten.
Insgesamt nahmen an dem De-facto-Generalstreik neun Millionen Arbeitnehmer aus Industrie, Handwerk, Handel und Verkehrswesen teil. Das entsprach damals 72 Prozent der 11,7 Millionen Beschäftigten der sogenannten Bizone (US-amerikanische und britische Besatzungszone).
Und während man 1953 in der DDR von "westlichen und faschistischen Agenten" sprach, verkündete das US-Oberkommando in Frankfurt am Main, hinter der Protestwelle ständen "linksextreme und nationalistische Unruhestifter".
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Ein frühes Zentrum des Unmuts war die Stuttgarter Industrieregion. Dort war es am 28. Oktober 1948 nach Streiks und Protesten für Preisregulierung, Lohnerhöhung und Mitbestimmung zu schweren Unruhen gekommen, bei denen die US-Militärpolizei Tränengas und Panzer eingesetzt hatte. Der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius Clay, war äußerst beunruhigt und verhängte ein Ausgehverbot über Stuttgart.
In der französischen Besatzungszone wurde der für den 6. November von Gewerkschaften angekündigte Generalstreik unter drakonischer Strafandrohung von Beginn an verboten.
Der Generalstreik 1948 hatte zudem einige Vorläufer, über die in der westdeutschen Geschichtsschreibung ebenso wenig zu lesen ist.
Ein Jahr zuvor war ein großer Bergarbeiterstreik in der Bizone mit der zentralen Forderung nach Enteignung der "Kohlebarone" beendet worden, indem man den Streikenden mitten im Hungerjahr die Lebensmittelrationen um die Hälfte kürzte.
In Hessen waren auf dem Höhepunkt der sogenannten Hungerkrise im Frühjahr 1947 Streiks und Proteste von der Militärregierung unter Androhung der Todesstrafe unterdrückt und verboten worden, ähnlich die Situation in Niedersachsen, dort setzten die britischen Besatzer gepanzerte Fahrzeuge gegen die Protestierenden ein.
Nicht zu vergessen ist der damalige Zeitgeist in der "Westzone", bei dem selbst das Ahlener Programm der CDU, und das schon nach US-Intervention abgeschwächt, mit den Worten begann:
Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.
Die engen Grenzen der demokratischen Mitbestimmung auch im Westsektor zeigt beispielhaft der Fall der hessischen Verfassung auf. 1946 wollten die hessischen Abgeordneten die Verstaatlichung aller Schlüsselindustrien in ihre Verfassung schreiben. Doch war dies nicht im Interesse Washingtons.
Nach anfänglichen Überlegungen, dieses Vorhaben generell zu verbieten, ging man zu einer subtileren Taktik über. Der fragliche Paragraf 41 wurde auf Druck der USA aus der Verfassung herausgelöst und getrennt zur Abstimmung vorgelegt, in der Absicht, dass dieser dann die nötige Mehrheit verfehlt. Jedoch stimmten 70 Prozent für diesen "Verstaatlichungs-Paragrafen".
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Daraufhin wurde die von den Wählern mit großer Mehrheit beschlossene Verstaatlichung für den Montansektor, nun weniger subtil, per Besatzerdekret verboten. Dieser massive und de facto diktatorische Eingriff der US-Amerikaner in eine demokratische Grundsatzentscheidung findet sich genauso wenig in deutschen Schul- und Geschichtsbüchern wie der zuvor genannte Generalstreik 1948. Lieber bleibt man bei der schwarz-weißen und ahistorischen Geschichtsschreibung: Diktatur im Osten – Uneingeschränkte Freiheit und Demokratie im Westen des Landes.