Übersterblichkeit und Corona-Impfung: Mathematiker wirft Behörden Täuschung vor

Wie war das noch mal mit der Impfung und der Übersterblichkeit? Ein Mathematiker wirft dem Statistischen Bundesamt vor, seine Zahlen in der Corona-Zeit nach politischen Erfordernissen gestaltet zu haben. Dem Paul-Ehrlich-Institut bescheinigt er, wider besseres Wissen falsche Tatsachen zu behaupten.

Der Versicherungsmathematiker Matthias Reitzner hat deutschen Behörden vorgeworfen, die Öffentlichkeit über das Ausmaß der Nebenwirkungen der Corona-Impfung im Unklaren zu lassen und mit verzerrten Statistiken ein unwahres Bild des Sterbegeschehens in der Corona-Zeit gezeichnet zu haben. Reitzner, der an der Universität Osnabrück lehrt und dort das Institut für Mathematik leitet, erklärte im Gespräch mit Multipolar, dass das Statistische Bundesamt in den Jahren ab 2020 seine Berechnungen zu Übersterblichkeit und COVID-Toten nach politischen Vorgaben gestaltet habe:

"Ich nehme an, es gab einen hohen politischen Druck, die Übersterblichkeiten plötzlich anders zu rechnen, weil das Ergebnisse lieferte, die man von politischer Seite hören wollte."

Reitzner hatte im Mai 2023 zusammen mit seinem Kollegen Christof Kuhbandner in dem Fachmagazin Cureus einen Beitrag über die Übersterblichkeit in Deutschland in den Jahren 2020 bis 2022 veröffentlicht. Darin kamen die beiden Wissenschaftler zu dem Schluss, dass sich die Übersterblichkeit 2020 mit etwa 4.000 Todesfällen im Normalbereich bewegt habe, um dann 2021 auf etwa 34.000 und 2022 auf 66.000 zusätzliche Todesfälle anzusteigen. Der Anstieg habe im April 2021 eingesetzt und die Altersgruppen von 15 bis 79 Jahren umfasst. Auch bei Totgeburten registrierten die Forscher eine deutliche Zunahme.

Dagegen hatte das Statistische Bundesamt für das Jahr 2020 etwa 30.000 COVID-19-Tote gemeldet, für 2022 etwa 52.000. Reitzner erklärte:

"Die Diskrepanz ist sogar noch deutlich größer, wenn man sich die Pandemiejahre anschaut, was wir für sehr vernünftig halten. Wenn man jeweils von April bis März geht, dann haben wir im ersten Jahr 22.000 mehr Tote als erwartet berechnet. Im selben Zeitraum wurden 78.000 Corona-Tote gemeldet. Das heißt, wir haben im ersten Pandemiejahr 56.000 Corona-Tote, die nicht in der Übersterblichkeit auftauchen. Von diesen Personen hätten wir erwartet, dass sie versterben, unabhängig von Corona. Im dritten Jahr – April 2022 bis März 2023 – dreht sich das vollkommen um. Für diesen Zeitraum haben wir eine Übersterblichkeit von fast 80.000 ermittelt, aber die offizielle Anzahl der Corona-Toten liegt nur bei 38.000. Hier haben wir also eine Diskrepanz von über 40.000 Toten."

Die offiziellen Statistiker, so der Interviewer, versuchten nicht einmal, die Diskrepanzen zwischen Übersterblichkeit und COVID-19-Todesfällen zu erklären. 

Mittlerweile hätten die Statistischen Bundesämter in Deutschland und Österreich ihre "seltsame Berechnungsweise" wieder eingestellt, sie ermittelten die Übersterblichkeit jetzt wieder mit der herkömmlichen Methode.

Scharfe Kritik übt der Versicherungsmathematiker auch am Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Auf die Frage, ob die Fachwelt überrascht vom Eingeständnis des Bundesgesundheitsministeriums gewesen sei, dass das PEI bei den COVID-19-Impstoffen etwa 20-mal mehr Verdachtsmeldungen von Nebenwirkungen erfasse als bei anderen Impfungen, erinnerte Reitzner an den Fall der BKK ProVita:

"Dass das Paul-Ehrlich-Institut dies zugibt, ist keine große Überraschung. Es ist ja bekannt, dass zum Beispiel der Vorstandsvorsitzende der Betriebskrankenkasse ProVita bereits 2022 auf Basis der eigenen Abrechnungsdaten deutlich gesagt hat, dass es eine Untererfassung der Impfnebenwirkungen gibt. Allein bei den 10,9 Millionen Krankenversicherten der Betriebskrankenkasse sind seinen Angaben nach fast ebenso viele Nebenwirkungen nach COVID-19-Impfungen ärztlich behandelt worden, wie das PEI an Verdachtsfällen von Impfnebenwirkungen der damals über 60 Millionen gegen COVID-19 Geimpften erfasst hat. Daraufhin ist der Vorstandsvorsitzende innerhalb einer Woche fristlos entlassen worden." 

Die meisten Versicherungsmathematiker hätten seitdem gewusst, dass sie besser schweigen. Deshalb sei das Echo in der Fachwelt sehr ruhig:

"Ich bin mir sicher, dass die Versicherungsmathematiker in den Versicherungen ganz genau wissen, was abgelaufen ist. Es will nur sonst keiner wissen, also schweigt man. Man gefährdet auch seinen Job, wenn man nicht schweigt. Da fühle ich mich natürlich als Universitätsprofessor mit der grundgesetzlich garantierten Freiheit von Forschung und Lehre viel sicherer."

Dass sowohl das PEI als auch das Robert-Koch-Institut (RKI) öffentlich zugängliche Daten zu den Impfnebenwirkungen ignoriert haben, erklärt der Mathematiker mit dem politischen Druck, der sehr groß gewesen sein müsse.

Auch das Thema der Abhängigkeit der Nebenwirkungen von den verschiedenen Chargen der Impfstoffe wurde angesprochen. Das PEI verneinte eine derartige Abhängigkeit, die von einer dänischen Studie festgestellt worden war, weigert sich aber, die dieser Einschätzung zugrunde liegenden Rohdaten zu veröffentlichen. Multipolar verweist auch darauf, dass das Institut die Verdachtsmeldungen noch immer nicht mit den Abrechnungsdaten der Krankenkasse abgeglichen habe. 

"Ich muss zugeben, bis zum Beginn der Corona-Pandemie habe ich vom Paul-Ehrlich-Institut sehr viel gehalten. Ich habe die Behörde für eine vernünftige wissenschaftliche Institution gehalten. Ich möchte das einmal mit dem Statistischen Bundesamt vergleichen. Ich weiß, dass dort vernünftige Statistiker sitzen, die aber aufgrund politischen Drucks nicht sagen durften, was sie wussten. Das erscheint mir sehr plausibel. Wenn ich hingegen die Pressemitteilung zur Stellungnahme des Paul-Ehrlich-Instituts lese, weiß ich nicht mal, ob es dort jemanden gibt, der ordentliche Auswertungen machen könnte. Ich frage mich, was verwerflicher ist: wenn eine Behörde aus Dummheit falsche Sachen sagt, oder wenn eine Behörde falsche Sachen wider besseres Wissen sagt und sich damit unmoralisch verhält."

Die Arbeitsweise des Paul-Ehrlich-Instituts sei "verheerend":

"Wenn schon seit längerer Zeit ein massiver Verdacht von Nebenwirkungen besteht, dann ist es Aufgabe der Behörde nachzufassen, was wirklich los ist, anstatt zu mauern und so zu tun, als gäbe es den Verdacht nicht. Das Paul-Ehrlich-Institut ist nicht dafür gegründet worden, um Nebelkerzen zu werfen, sondern um Verdachtsfällen nachzugehen. In meinen Augen gehört zumindest die Spitze des Instituts vollständig ausgetauscht, und man müsste darüber nachdenken, wie in Zukunft bei Verdachtsfällen kritisch nachgeprüft wird. Es ist klar, dass man dies nicht direkt nach den ersten Impfungen machen konnte, aber als dann 20 Millionen verabreicht wurden, hat man das Datenmaterial beim Paul-Ehrlich-Institut gehabt, um ernsthaft nachprüfen zu können. Dass man das nicht gemacht hat, ist eine schwere Dienstverfehlung."

Reitzner äußerte sich in dem Gespräch auch zu dem andauernden Review-Prozess seines im Februar 2024 veröffentlichten Artikels, in dem er und Kuhbandner noch detailliertere Berechnungen zur Übersterblichkeit in Deutschland angestellt hatten. Ihn erschrecke die Art der Rückmeldungen von Kollegen. So heiße es etwa, die Daten und Berechnungsmethoden seien richtig:

"Doch dann folgt die Kritik, dass das Ergebnis nicht dem entspricht, was erwartet wurde, und deswegen darf es nicht veröffentlicht werden. Das ist uns wortwörtlich so rückgemeldet worden."

Einer der Wissenschaftler habe geschrieben, das Ergebnis widerspreche dem gesunden Menschenverstand. Wenn man zugebe, dass die Berechnungen und die Daten korrekt sind und damit im Grunde auch das Ergebnis, aber dann nur die Veröffentlichung verhindern wolle, halte er, so Reitzner, "das für sehr schlechte Wissenschaft".

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