Von Gert Ewen Ungar
Im Hinblick auf den Anschlag auf die Ostseepipeline Nord-Stream gibt es inzwischen zahlreiche Erzählstränge. In ihrer Unterschiedlichkeit sorgen sie für Verwirrung und für Ablenkung von der Tatsache, dass ein von Pulitzer-Preisträger Seymour Hersh erhobener Vorwurf nicht weiter verfolgt wird. Es ist im Bereich des Wahrscheinlichen, dass genau das ihr Zweck ist. Hersh hat unter Bezugnahme auf eine ihm vertraute Quelle mit Verbindung ins Weiße Haus behauptet, US-Präsident Joe Biden sei persönlich in den Anschlag involviert. Biden habe ihn beauftragt.
Dass diese Spur nicht verfolgt wird, ist auch deshalb erstaunlich, weil US-Präsident Biden unmittelbar vor Beginn des Ukraine-Kriegs im Beisein von Bundeskanzler Scholz erklärt hat, für den Fall, dass Russland in die Ukraine einmarschiere, werde es kein Nord-Stream 2 mehr geben. Scholz wurde vor der Weltöffentlichkeit düpiert. An diese Aussage, die in den großen deutschen Medien keinen Niederschlag mehr findet, erinnert der außenpolitische Blog German-Foreign-Policy.
Fabio De Masi ergänzt in diesem Zusammenhang in einem Interview mit dem Cicero, dass es eine Aufgabe der Geheimdienste sei, Verwirrung zu stiften.
"Wir dürfen nie vergessen: Bewusst Verwirrung zu stiften, ist das Spiel, das die Geheimdienste perfekt beherrschen, um von eigenem Handeln abzulenken."
In der Tat wird nur noch die Geschichte der Segeljacht Andromeda verfolgt, wobei die Enden der Geschichte immer weiter zerfasert werden, was auf die Absicht hindeuten könnte, die Ermittlungen letztlich im Sande verlaufen zu lassen.
Die gecharterte Segeljacht Andromeda soll von einer Gruppe von sechs Privatpersonen für den Anschlag benutzt worden sein. Die Gruppe bestand aus fünf Männern und einer Frau. Die Geschichte, die auf den Aussagen ungenannter Quellen innerhalb der selbst als tatverdächtig geltenden US-Administration basiert, wirft zahlreiche Fragen auf.
So soll ein hochprofessionell agierendes Team zwar in der Lage gewesen sein, in der international komplett überwachten Ostsee unbemerkt Sprengstoff in großer Tiefe angebracht zu haben, agierte dann aber so unvorsichtig, dass vier Monate nach dem Anschlag in der Jacht hinterlassene Fingerabdrücke zur Identifizierung der Beteiligten führen.
Für Deutschland wird der Schaden immer größer. Egal, welcher Erzählung man mehr Glauben schenkt, so folgt aus allen derzeit im Umlauf befindlichen Varianten, Anschläge auf die vitale Infrastruktur Deutschlands durchführen darf, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Die Tatsache, dass Polens Ministerpräsident Donald Tusk "Entschuldigung und Schweigen" fordert und Tschechiens Präsident Petr Pawel öffentlich äußert, Nord-Stream sei "legitimes Ziel" deutet auf einen massiven Einflussverlust Deutschlands auch innerhalb seiner Bündnispartner hin.
Einem Erzählstrang folgend hintertreibt Polen die Aufklärung des Anschlags. Ein vom Generalbundesanwalt ausgestellter Haftbefehl gegen einen Ukrainer, der sich in Polen aufhielt, wurde nicht ausgeführt. Der Gesuchte konnte sich in die Ukraine absetzen. Allerdings werfen polnische Behörden ihren deutschen Kollegen vor, es versäumt zu haben, den Betreffenden ins Schengen-Register eintragen zu lassen, das bei Grenzkontrollen maßgeblich ist.
Warum der Mann nicht von Kiew nach Deutschland überstellt wird, wirft weitere Fragen auf. All diese Ungereimtheiten stützen die These, dass ein tatsächlicher Aufklärungswille auf keiner Seite zu erkennen ist, dafür aber die Strategie verfolgt wird, die Geschichte in immer weitere Untererzählungen aufzufächern, deren Erzählstränge sich schließlich nicht mehr zusammenführen lassen.
Beschleunigt wird der deutsche Machtverlust noch durch deutsche Politik, die einerseits von jeglicher Konsequenz gegenüber der Ukraine absieht, obwohl sie vorgibt, an die ukrainische Spur zu glauben. Laut einem Bericht des Wall Street Journals war Präsident Selenskij über die Anschlagspläne informiert. Er habe versucht, das Vorhaben zu stoppen, das vom ehemaligen ukrainischen Generalstabschef und jetzigen ukrainischen Botschafter in Großbritannien, Waleri Saluschny, koordiniert wurde. Im Gegensatz zur Spur ins Weiße Haus wurde die Spur in den Regierungsapparat in Kiew in Deutschlands Medien breit gestreut. Eine vergleichbare Diffamierungskampagne, wie sie gegen Hersh in den deutschen Medien gefahren wurde, blieb gegenüber dem Wall Street Journal aus.
Andererseits wird der Machtverlust Deutschlands durch Äußerungen deutscher Politiker beschleunigt, die Sabotage von Nord-Stream sei letztlich in deutschem Interesse. Sie habe Deutschland aus der Abhängigkeit von russischem Gas befreit. Zum einen ist die Behauptung falsch, Deutschland käme jetzt ohne russisches Gas aus. Es wird weiter als Flüssiggas importiert – selbstverständlich zu einem deutlich höheren Preis. Auch über die Transgas-Pipeline, die durch die Ukraine verläuft, bezieht Deutschland weiterhin russisches Pipeline-Gas. Das Argument behauptet aber zudem, dass ausländische Mächte besser wissen, was im Interesse Deutschlands liegt als Deutschland selbst. Daher habe auch das Ausland das Recht, über deutsche Infrastrukturprojekte zu entscheiden. Das Argument ist an Kurzsichtigkeit und Preisgabe jeglichen Anspruchs auf politische Souveränität schwer zu toppen.
Nach wie vor äußern Experten erhebliche Zweifel daran, ob eine Segeljacht und eine sechsköpfige Crew rein technisch in der Lage sind, mehrere hundert Kilogramm Sprengstoff und Ausrüstung zum Tiefseetauchen unbemerkt über die Ostsee zu transportieren, um dann in 70 Meter Tiefe die Pipeline mit Sprengstoff zu präparieren. Dafür kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass der Anschlag auf Deutschlands Stellung innerhalb seiner Bündnispartner zielte.
Aus Deutschland wurde wiederholt geäußert, man sei bereit zu führen. Dass Deutschland dazu weder bereit noch in der Lage ist, macht der Verzicht auf jede Form der Konsequenz bezüglich des Anschlags auf Nord-Stream überdeutlich. Deutschland ist nicht in der Lage, die eigenen Interessen zu verfolgen, geschweige denn, Staaten mit ähnlich gelagerten Interessen anzuführen.
Mehr zum Thema – Sacharowa: Der tschechische Präsident redet wie ein Terrorist