Nach seiner Kehrtwende hinsichtlich des Einsatzes deutscher Waffen durch die Ukraine gegen Ziele in Russland übte sich Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD), der eine Eskalation des Konflikts angeblich vermeiden will, in Beschwichtigung:
"In der Sache sind wir sicher, dass es nicht zu einer Eskalation beiträgt, weil – wie der amerikanische Präsident ja auch geschildert hat – es nur darum geht, dass zum Beispiel eine Großstadt wie Charkiw verteidigt werden kann."
Die Union sowie die Fraktionen der Ampelkoalition folgen der fragwürdigen Argumentation von Olaf Scholz und loben den Kanzler, dass er nun den Pfad der Eskalation beschritten hat. Und auch die deutschen Medien begrüßen fast durchweg die Eskalationswende des Kanzlers, freilich ohne darin ein Anzeichen für Eskalation entdecken zu können.
Doch manche Experten sehen das anders. Darunter Oberst a. D. Ralph Thiele, der am Mittwoch vergangener Woche eindringlich vor einer weiteren Eskalation des Konflikts durch den Westen warnte. Am selben Tag durfte CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen bei Maischberger den deutschen Zuschauern "den großen Putin-Bluff" erklären.
Putin will nur spielen – Ignoranz mit fatalen Folgen
Und "Bluff" ist offenbar das Stichwort, mit dem deutschsprachige Medien dem Publikum verklickern wollen, warum ein Krieg mit der größten Atommacht der Welt doch gar nicht so bedrohlich sei. "Russlands taktischer Atom-Bluff", titelte die Frankfurter Rundschau am Wochenende, die bereits im Mai zu berichten wusste, dass die russischen Atomwaffendrohungen "nicht ernstzunehmen" seien.
Warum nun manche im Westen dennoch Furcht vor "Moskaus Antwort auf die Freigabe von Nato-Waffen für ukrainische Schläge gegen russisches Gebiet" haben, kann die NZZ überhaupt nicht verstehen. Denn Russland habe "weder Ressourcen noch Anlass (!), die NATO auf konventionelle Art zu attackieren". Aber was ist mit Atomwaffen? Laut der NZZ gar nichts, denn "der rote Knopf ist ein Bluff".
Angesichts jüngster russischer Atomwaffenübungen stellte der Merkur die Frage in den Raum: "Vorbereitung für den Tag des Jüngsten Gerichts oder ein Bluff?" Immerhin sei beides "denkbar". Doch der Merkur hat sich schon in der Überschrift für die letztere Variante entschieden, laut der Putin mit seinen strategischen Atomwaffen ja bloß "spielt". Also alles nur ein Spiel?
Ob sich das auch der Kanzler dachte, als er zwei Tage nach der Warnung von Oberst a. D. Ralph Thiele grünes Licht an Kiew dafür gab, mit deutschen Waffen Russen in Russland zu töten?
In einem am Mittwoch veröffentlichten Focus-Interview rechnet Thiele nun mit der Ukraine-Politik des Westens ab: "Viele behaupten, Putin spiele Poker. In diesem Bild sitzen wir allerdings mit am Pokertisch", so der Militärexperte, der die Entscheidung, ohne strategische Reflexion einfach immer weiter Waffen an die Ukraine zu liefern als "eine existenzielle Bedrohung für den Westen" bezeichnet.
Dieser agiere demnach ohne klare Strategie und ohne starke Hand – und als Einsatz am Pokertisch diene ihm "nicht nur die ukrainische", sondern auch die "eigene Bevölkerung und Prosperität". Putin habe dagegen ein volles Blatt. "Wir haben ein leeres Blatt, und die NATO ebenso, denn abgesehen von den USA sind die NATO wir. Und wir haben kaum relevante militärische Fähigkeiten", so der ehemalige Bundeswehrsoldat. Gegenüber Moskau, das bereit sei, "All-in" zu gehen, sei das Handeln Deutschlands und des Westens "hochriskant".
Russlands Ressourcen stechen den Westen aus
Auch was Russlands Ressourcen betrifft, gibt sich der ehemalige Oberst nicht den Trugschlüssen westlicher Medien und Politiker hin. Russland habe nicht nur "dreimal so viele Männer wie die Ukraine", deren Soldaten "bereits körperlich und geistig erschöpft" seien und der es "an frischem Personal" mangele. Russland produziere auch dreimal so viele Panzer wie die USA und habe seit Kriegsbeginn konsequent auf Kriegswirtschaft umgestellt und den Westen in dieser Hinsicht abgehängt.
"Die Sanktionen des Westens gegen Russland und die fortgesetzten Waffenlieferungen an die Ukraine schwächen nicht nur die Wirtschaft der westlichen Staaten, sondern belasten auch die ohnehin mit Waffen und Munition zu knapp ausgerüstete Bundeswehr", so Thiele.
Am Zustand der Bundeswehr lässt deren ehemaliger Oberst kein gutes Haar: "Wir Deutschen haben im Prinzip drei Divisionen, mit denen wir größere Aufgaben wahrnehmen können. Die sollten bis 2028 einsatzbereit sein, sind es jetzt aber nicht mehr, weil wir die geplündert haben, damit wir eine voll ausgerüstete Brigade nach Litauen schicken können. … Wer soll diese Brigade im Fall einer Eskalation verstärken? Wir haben nichts."
Scholz und Pistorius führen Deutschland an den Abgrund
Des Weiteren gibt Thiele zu bedenken, dass "auch Teile der Politik und der Medien den Einsatz von Waffen, Truppen und Luftfahrzeugen nicht ausreichend reflektiert vorantreiben." Und ohne Scholz beim Namen zu nennen, bekommt auch der Bundeskanzler sein Fett weg. So heißt es dazu im Fokus:
"Er vergleicht die aktuelle Situation mit früheren, besonnenen politischen Führern wie Brandt, Wehner, Schmidt, Kohl und Adenauer, die seiner Einschätzung nach aufgrund ihrer eigenen traumatischen Kriegserfahrungen vergleichbare Eskalationen mit Sicherheit vermieden hätten. Eine Stimmung zu schaffen, die die deutsche Bevölkerung in ein Kriegsengagement treibt, ohne die langfristigen Konsequenzen sorgfältig abzuwägen, sei hochriskant."
Kurz nach Erscheinen des Focus-Interviews hat Verteidigungsminister Boris Pistorius am Mittwoch im Bundestag die deutsche Öffentlichkeit auf einen Krieg gegen Russland eingeschworen. Der SPD-Politiker skizzierte dafür ein Zeitfenster innerhalb der nächsten fünf Jahre. "Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein", sagte Pistorius, der dafür "eine neue Form" der Wehrpflicht einführen will, damit "junge Frauen und Männer" Deutschland im Ernstfall "verteidigen können".
Schon seltsam: Einerseits "spielt" und "blufft" Putin laut hiesigen Medien und Politikern nur, und verfüge auch nicht über die notwendigen Ressourcen für einen Feldzug gen Westen; andererseits muss Deutschland nun laut Pistorius schnellstmöglich "kriegstüchtig", "durchhaltefähig und aufwuchsfähig" werden, um im drohenden Krieg mit Russland bestehen zu können.
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