"Ausgrenzungs- und Steinigungsreflex" – Dietrich Brüggemann zieht "Bilanz meines Mutigseins"

Der Filmemacher Dietrich Brüggemann geriet als Mitinitiator der maßnahmenkritischen Videoreihe '#allesdichtmachen' als "Schwurbler" in den Fokus der Öffentlichkeit. Rund drei Jahre später erfolgt nun ein Resümee, gespickt mit Beispielen mutwilliger beruflicher Ausgrenzung.

Am 23. April 2021 veröffentlichte eine Gruppe von 53 Filmschaffenden 53 selbst gedrehte Videos unter dem Hashtag #allesdichtmachen. Als Initiator wurde medial umgehend der mitverantwortliche Regisseur Dietrich Brüggemann als hauptverantwortlicher "Corona-Leugner" und gefährlicher "Querdenker" erkannt und beruflich diskreditiert und attackiert. Mehrere bereits beschlossene Projekte und Verträge wurden gestoppt und/oder aufgelöst. In einem Gastartikel berichtet nun Brüggemann über eine "vorläufige Bilanz meines Mutigseins".

Brüggemanns aufschlussreiches und bedrückendes Resümee wurde am 1. Juni in der Welt veröffentlicht (Bezahlschranke). Der Autor und Musiker berichtet in einem längeren Text über die Konsequenzen seiner kritischen Positionierung, die zum Teil bis heute auch seine berufliche Existenz treffen. Brüggemann nennt dabei auch bewusst die Namen willkürlich und mutwillig ausgrenzender Protagonisten. 

Zur Einleitung erklärt Brüggemann die von ihm wahrgenommene gesellschaftliche Atmosphäre des Jahreswechsels 2020/2021:

"Also tat ich, was ich immer tat: Ich blieb skeptisch. Ich musste allerdings bald feststellen, dass ich diesmal mit meiner Haltung allein war. Ein Jahr lang sah ich mir an, wie die Corona-Maßnahmen sich immer mehr verselbständigten. Dann kam ich mit einer Gruppe von Schauspielern in Kontakt, die die Situation genauso erschreckend fanden wie ich, und so entstand die Aktion #allesdichtmachen."  

Am 25. April titelte exemplarisch das SPD-nahe RND über die umgehende mediale Dynamik nach der Veröffentlichung der die Maßnahmen persiflierenden Videos:

"Die einen rudern zurück, die anderen sind entsetzt – und manche bleiben dabei: Die Aktion #allesdichtmachen sorgt für Streit und Unverständnis."

Brüggemann erklärt das Erlebte mit den Worten:

"Die Empörung kannte daraufhin keine Grenzen. Wir hatten ein paar Videos ins Netz gestellt, niemand musste sie anschauen, aber was jetzt passierte, wäre in vormodernen Zeiten eine Steinigung durch einen wütenden Mob gewesen."

Der nachweislich regierungstreue Berliner Tagesspiegel veröffentlichte unmittelbar zwei Artikel, laut denen die Person Brüggemann "Verbindungen ins Querdenker-Milieu" gehabt habe, um mit den Filmen "die Grenze zwischen Wahr und Falsch verwischen zu wollen". Das Problem: Brüggemann wurde vorab seitens der Tagesspiegel-Redaktion nicht kontaktiert, die diskreditierenden Inhalte konnten somit ungeklärt ihren Weg in die Öffentlichkeit gehen.

Die erste berufliche Konsequenz erfolgte umgehend, eine bereits zugesagte Veröffentlichung eines Romans wurde zurückgezogen. Die Begründung des Kanon-Verlagschefs Gunnar Cynybulk lautete laut Brüggemanns Darlegung im Welt-Artikel:

"'Kanon möchte', schrieb er mir danach, 'eine Literatur ermöglichen, die nicht destruktiv ist, und Künstler:innen fördern, die ihre Meinungsfreiheit nicht missverstehen'. Außerdem bat er mich nachdrücklich darum, Stillschweigen über diesen Vorgang zu bewahren – und dann forderte er noch den bereits gezahlten Vorschuss zurück."

Brüggemanns Literaturagentin wurde zudem über einen Brief belehrt, dass "die politisch motivierten Verlautbarungen" der Videos, "das Kunstwerk entwerten und beschädigen. Es wäre spannend zu sehen, inwieweit Gerichte dieser Lesart folgen". Die schriftliche Anfrage beim Verlagschef im Mai 2024, ob "er die damalige Entscheidung weiterhin richtig findet", blieb für Brüggemann unbeantwortet.

Als ein zweites Beispiel der beruflichen und finanziellen Abstrafung nennt der Musiker die Reaktion des Hamburger Labelchefs (Grand Hotel van Cleef) und Kettcar-Sängers Marcus Wiebusch und einen aufgelösten Albumdeal. Trotz zuvor zahlreicher Kooperationen, auch als Videoproduzent für Label-Künstler, musste Brüggemann erkennen, dass eine Zusammenarbeit mit ihm wohl nicht mehr möglich war:

"Es war, wie er – Labelchef Wiebusch – selbst sagte, das erste Mal in der Labelgeschichte, dass man eine Band hinauswarf. Es folgten ein paar Mails sowie ein Telefongespräch, das bald in Anschreien überging. Schließlich schrieb er mir, das Ganze sei ein 'Schlag ins Gesicht' (von mir an ihn, nicht etwa umgekehrt) 'und für mich die größte Enttäuschung der Labelgeschichte'.

Auch Wiebusch antwortete im Mai 2024 nicht auf die Anfrage, "ob Sie - das Label - die damalige Entscheidung immer noch richtig finden". Der geschasste Romanentwurf weckte dann im Jahr 2022 das Interesse bei dem renommierten Verlag Hoffmann und Campe. So wurde Brüggemann zuerst mitgeteilt, der Inhalt sei "nichts weniger als das absolut umwerfende Porträt der deutschen Republik im Jahre 2021, ein großer, unglaublich unterhaltsamer Roman, gespickt mitunter mit den besten Dialogen, die ich in meiner zwanzigjährigen Karriere als Lektor gelesen habe", so der begeisterte Lektor. Das Endergebnis lautete, noch in derselben Mail formuliert:

"Aber die Freude währte nicht lang, denn gleich darunter schrieb er, dass man es bei Hoffmann und Campe 'sich aber nicht zutraut, Ihren Roman so aufzustellen, wie er aufgestellt werden müsste aufgrund der Verwerfungen im vergangenen Frühjahr'".

Wenig überraschend, auch Hoffmann und Campe wurde jüngst angeschrieben "und gefragt, wie man heute zu dieser Entscheidung steht, aber bisher kam keine Antwort". Brüggemann erzählt dann die Anekdote, wie die Stern-TV-Redaktion ihn im April 2021 vor der Sendung, dem geplanten Porträt und Interview über "#allesdichtmachen", für den Aufmacher inszenierte:

"Man hatte in einem Schneideraum unsere 53 Videos auf den Monitoren arrangiert, dort sollte ich mich davorsetzen und so tun, als sei ich gerade mitten in der Postproduktion, und das wollte man dann zwischen Statements von betroffen-empörten Schauspielkollegen schneiden. In der Sendung gelang es mir, bei der Sache zu bleiben und mich sogar mit meiner designierten Gegnerin, der Instagram-Ärztin 'Doc Caro' Holzner, zu fraternisieren."

Brüggemann musste feststellen, dass in den Artikeln jener Zeit über ihn die meisten "die Erfindungen des Tagesspiegel übernahmen". Und weiter:

"Besonders rustikal betätigte sich ein Autor namens Andreas Hartmann, der in der taz unter dem Titel 'Werk, Autor, Sumpf' feststellte, ich sei 'richtig abgetaucht in den Sumpf' und werde 'aus diesem so schnell wahrscheinlich auch nicht mehr herauskommen'." 

Auch die taz-Redaktion möchte Brüggemann im Mai 2024 nicht erklären, "ob man derartige Hetzartikel nach zwei Jahren Drüber-Schlafen immer noch gut findet". Der Roman wurde schlussendlich im August 2023 von einem kleinen Frankfurter Verlag veröffentlicht. Das Problem: Es fanden keinerlei Rezensionen statt. Brüggemann berichtet:

"Die Veröffentlichung war in ihrer Ereignislosigkeit zutiefst beeindruckend (...) Ein befreundeter Journalist hätte es gern für die 'Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung' rezensiert, durfte aber laut eigener Aussage nicht (...) Bei meinem Verlag bekam ich eine SMS zu sehen, in der jemand schrieb: 'Bei der Vogue wie überall: N.’s Chef (Name geändert und abgekürzt, Anm. d. Welt-Red.) will nicht, dass sie Brüggemann macht. Seine Tweets seien 'gefährdend'."

Auch Lorenz Maroldt, Chefredakteur des Tagesspiegels, zog demnach kleinlaut im Frühjahr 2022 eine per Handschlag zugesagte Kolumnen-Kooperation zurück. Brüggemann plaudert aus dem Erlebnis-Nähkästchen:

"Als ich aber zwei Wochen später darauf zurückkommen wollte, flüchtete er sich in zahlreiche Bedenken und wollte nicht mehr an seine Zusage erinnert werden." 

Der jüngste andauernde Erfahrungswert erfolgte über ein "unter Pseudonym bei einem Kinderbuch-Literaturagenten" eingereichtes Manuskript. Brüggemann erzählt:

"Er fand es toll, bot mir Vertretung an und schickte einen Vertrag. Als ich daraufhin bekannt gab, wer ich wirklich bin (ich hielt das auch nach drei Jahren für unproblematisch) war er ganz entsetzt und wollte nichts mehr davon wissen."

Eine mögliche Professur bei der Babelsberger Filmuniversität wurde "gecancelt", durch einen unter den Studierenden kursierenden offenen Brief:

"In dem Brief stand, ich würde Corona 'verharmlosen', 'wissenschaftliche Erkenntnisse' leugnen und mich 'herablassend und respektlos zur Gender-Debatte und zu feministischen Standpunkten' äußern. Unterschrieben hatten einige Hundert Hochschulangehörige, darunter alle drei amtierenden Vizepräsidenten."

Zumindest eine seiner hauptberuflichen Tätigkeiten, die als Filmemacher für öffentlich-rechtliche Spielfilmredaktionen, nahm keinen negativen Abbruch und wird weiterhin aktuell umgesetzt. Brüggemann resümiert abschließend:

"Für diejenigen, die den Ausgrenzungs- und Steinigungsreflexen nachgegeben haben, ist es gleichwohl peinlich, aber diese Peinlichkeit ist ein Anzeichen dafür, dass etwas schiefläuft, und deswegen nenne ich hier auch bewusst Namen. Bezeichnend finde ich außerdem das Schweigen, das auf all meine Anfragen folgte (...)

Ich würde gern schließen, dass wir "als Gesellschaft" wieder zu einer besseren "Debattenkultur" finden sollten, aber solche Appelle erscheinen mir angesichts der hier versammelten Erlebnisse illusorisch. Die Zeit wird Corona irgendwann ins rechte Licht rücken, aber bei der nächsten Gelegenheit wird dieselbe Choreografie mit anderen Akteuren wieder genauso ablaufen."

Dazu könnten auch die Radio-Eins-Zuarbeiter Serdar Somuncu und Florian Schroeder zählen, die Brüggemann in ihrem Podcast ebenfalls diskreditierten. Für Somuncu gebe es aktuell "keinen weiteren Gesprächsbedarf". Zur Person Schroeder erzählt Brüggemann von einem Telefonat im April 2021:

"Eine Stunde vor der Aufzeichnung rief mich dann Florian Schroeder mit unterdrückter Nummer an und erläuterte mir in einem zwanzigminütigen Monolog mit schneidender Stimme, dass Kritik an den Corona-Maßnahmen ganz automatisch Verschwörungstheorie sei."

Mehr zum Thema – Ursula von der Leyen will die Bevölkerung gegen Desinformation impfen