Es bestätigt ein weiteres Mal die Befürchtungen, die man schon bei Verhängung der EU-Sanktionen auf russisches Erdgas haben konnte: "Im verarbeitenden Gewerbe hatten zuletzt 2004 so viele Betriebe aufgegeben." Das schreibt das Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) zu seiner neuen Studie, die zusammen mit der Wirtschaftsauskunftei Creditreform erstellt wurde.
Sie ist unter anderem deshalb interessant, weil sie die Zahl der Firmenschließungen mit der der Insolvenzen in Verbindung bringt und damit einen Einblick in die Größe der betroffenen Unternehmen gibt, und weil sie auch nach Branchen aufgegliedert ist.
Über alle Branchen verteilt hat sich die Zahl der Schließungen im Jahr 2023 um 2,3 Prozent erhöht, die Zahl der Insolvenzen aber um 9 Prozent. Kleinstunternehmer und selbständige Freiberufler sind nur selten zur Anmeldung einer Insolvenz verpflichtet.
"Da Unternehmen, die eine Insolvenz anmelden müssen, im Mittel mehr Mitarbeiter haben als die übrigen Schließungen, wird deutlich, dass eher größere Unternehmen von der aktuellen Schließungswelle betroffen sind."
Diese Entwicklung zeigt sich gleich in mehreren Branchen, und die Ergebnisse stimmen mit dem überein, was sich im Alltag beobachten lässt. Im Handel sind die Schließungszahlen zwar insgesamt zurückgegangen, aber die Zahl der Insolvenzen ist im Vergleich zu 2022 um 8 Prozent gestiegen. Ähnlich verhält sich das bei den konsumnahen Dienstleistungen, womit beispielsweise Gastgewerbe, Krankenhäuser, aber auch freiberufliche Künstler und Frisörbetriebe gemeint sind. Hier gingen die Schließungen zwar um 0,5 Prozent zurück, aber die Zahl der Insolvenzen ist um 20 Prozent auf einen Anteil von 11 Prozent an den Schließungen gestiegen.
Für die volkswirtschaftliche Entwicklung sind die Folgen also ernster, als es nach einem Blick auf die Schließungszahlen aussähe. Beim Handel zählt beispielsweise die Schließung eines Kiosks statistisch genauso viel wie die Insolvenz eines Kaufhauskonzerns. Im einen Fall trifft das aber womöglich nur eine einzige Person, im anderen Tausende. Sprich, erst die detaillierte Betrachtung verrät, dass die scheinbare Erholung, die man bei abnehmenden Zahlen der Unternehmensschließungen annehmen könnte, nicht der Wirklichkeit entspricht.
Im produzierenden Gewerbe ist das einfacher, weil beide Entwicklungen in die gleiche Richtung gehen, wobei auch hier tendenziell der Anteil größerer Unternehmen steigt. Im Baugewerbe gab es 2,4 Prozent mehr Schließungen als 2022, aber 7 Prozent mehr Insolvenzen. Im verarbeitenden Gewerbe lag die Zunahme der Schließungen bei 8,7 Prozent, die der Insolvenzen bei 6 Prozent. Das ist der höchste Stand an Unternehmensschließungen seit 2004. Er liegt also noch über dem Einbruch, der auf die Finanzmarktkrise folgte.
Interessant, wenn auch wenig hilfreich, ist die Nennung der Branchen, die weniger Probleme haben: "In Branchen wie der Möbelherstellung oder der Produktion von Spielwaren und Sportgeräten verzeichnen wir sogar sinkende Schließungszahlen", sagte Dr. Sandra Gottschalk, Senior Researcher beim ZEW.
Branchen, die das ZEW freundlich "nicht forschungsintensive Wirtschaftszweige" nennt. Aber eben auch Branchen, in denen längst alles, was verlagert werden konnte, schon verlagert ist.
Besonders deutlich sind jedoch die Zahlen im forschungsintensiven verarbeitenden Gewerbe. Als forschungsintensiv gelten dabei Branchen, in denen im Schnitt mehr als 2,5 Prozent vom Umsatz in die Forschung geht. Hier ist die Zahl der Schließungen um 12,3 Prozent gestiegen, deutlicher als im gesamten Rest der Wirtschaft. Dabei liegen die Zahlen in der chemischen Industrie um 80 Prozent über dem Wert von 2018. Und diese Unterschiede zwischen den Branchen haben langfristige Konsequenzen:
"Fallende Gründungs- und steigende Schließungszahlen führen dazu, dass sich die deutsche Wirtschaft in einem Strukturwandel befindet, also der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der deutschen Wirtschaft schleichend zurückgeht. Dieser Trend ist nicht neu: Im Jahr 2022 waren rund 8 Prozent der Unternehmen im verarbeitenden Gewerbe tätig, 2018 waren es 6,7 Prozent, aktuell sind es 6,4 Prozent."
Was natürlich zumindest zum Teil Resultat weiterer Konzentrationsprozesse sein kann. Da die Studie keine Angaben über Durchschnittsumsätze enthält, lässt sich das nicht überprüfen. Aber die Insolvenzen wie auch die Abwanderungsankündigungen, die sich der Tagespresse entnehmen lassen, deuten an, dass Kernbereiche der Produktion wegbrechen. Und wo die Produktion geht, da geht perspektivisch auch die Forschung, wie die jüngst angekündigte Verlagerung der Forschungsabteilung von VW nach China belegt.
Insgesamt liest sich die Liste der besonders betroffenen Branchen wie eine Übersicht über die Kernbranchen der deutschen Industrie: Chemie- und Pharmaindustrie, Maschinenbau, Fahrzeugbau und technologieintensive Dienstleistungen.
"Verwaiste Ladenlokale und leere Schaufenster treffen die Menschen in ihrer Umgebung wirtschaftlich und auch emotional. Die Schließungen in der Industrie aber treffen den Kern unserer Volkswirtschaft", meinte dazu Patrik-Ludwig Hantzsch, der Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform. Die Diskussion über die mögliche Deindustrialisierung müsse dabei auch auf die kleineren Unternehmen ausgeweitet werden:
"Derzeit bestimmen Turbulenzen bei prominenten und großen Unternehmen die Diskussion um eine mögliche De-Industrialisierung. Das leise Sterben vieler kleinerer Betriebe und hochspezialisierter Unternehmungen ist aber mindestens genauso folgenschwer. Hohe Energie- und Investitionskosten, unterbrochene Lieferketten, Personalmangel und politische Unsicherheit sind für die Wirtschaft ein toxischer Cocktail."
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