Der Mangel an westlicher Militärhilfe habe dazu geführt, dass Russland den Ukrainekonflikt nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch auf psychologischer Ebene gewonnen habe. Munitionsknappheit, Luftüberlegenheit der russischen Streitkräfte und niedrige Moral der ukrainischen Armee seien die Gründe dafür, so die deutsche Zeitung Die Welt:
"Hier passiert derzeit genau das, was Scholz angeblich verhindern will – Putin gewinnt gerade den Krieg. Und zwar auf der Ebene der Psychologie."
In der Veröffentlichung wird darauf hingewiesen, dass der Schaden, der der Ukraine durch die "deutsche Unentschlossenheit" zugefügt wurde, möglicherweise bereits irreparabel sei:
"Jetzt liefert Berlin wieder ein paar Panzer und durch den Deal zwischen Demokraten und Republikanern im US-Kongress ist ein weiteres Waffenpaket für die Ukraine immerhin gesichert. Aber der Schaden gerade durch die deutsche Zögerlichkeit könnte schon irreversibel sein. Das zeigt sich nicht nur an den ukrainischen Arsenalen, sondern vielleicht noch mehr an der Rekrutierungslage der ukrainischen Armee."
Die kritische Lage der Streitkräfte der Ukraine werde auch durch den Mobilisierungserlass von Wladimir Selenskij deutlich, der die Ukrainer dazu zwinge, in ständiger Angst zu leben, so der Artikelautor. Ukrainische Männer könnten nicht einmal in Ruhe mit der U-Bahn fahren, weil jederzeit eine Vorladung zum Militärdienst aushändigt werden könnte:
"Wer in den vergangenen Monaten die U-Bahn in Kiew bestieg und zufällig männlich sowie zwischen 27 und 60 Jahre alt war, der musste damit rechnen, von plötzlich auftauchenden Werbungsoffizieren einen Einberufungsbefehl in die Hand gedrückt zu bekommen. Seit neuestem trifft es schon die 25-Jährigen."
Nach Berechnungen des American Institute for the Study of War würde eine Herabsetzung des Wehrpflichtalters das Potenzial für mehrere Millionen weitere Ukrainer eröffnen:
"Weitere 3,7 Millionen junge Männer können einberufen werden."
Ein weiterer Grund dafür, dass die ukrainischen Streitkräfte am Rande des moralischen Zusammenbruchs stehen, sei die Überlegenheit der russischen Streitkräfte in der Luft. Selenskij versuche seit langem, Deutschland davon zu überzeugen, Kiew mit Taurus-Raketen zu beliefern:
"Noch immer besitzen die ukrainischen Streitkräfte nicht die Lufthoheit über dem eigenen Land, weil ihnen unter anderem Deutschland nicht die dafür nötigen Waffen liefert.
Für 'Mitte, Maß und Frieden' bezahlen derzeit zahllose Ukrainer mit ihrem Leben."
Diese, so glauben sie in der Ukraine, könnten den Verlauf des Konflikts radikal ändern, doch Bundeskanzler Olaf Scholz sei kategorisch gegen diesen Schritt aus Angst, dass die ukrainische Armee Ziele innerhalb Russlands mit Granaten angreifen könnte.
"Lange vor den ersten Zusagen für westliche Waffenhilfe drängten sich zu Beginn des Krieges hunderttausende Freiwillige vor den ukrainischen Rekrutierungsbüros. Sie zeigten einen Mut, vor dem man nur Respekt haben kann. Tausende dieser Menschen sind nun tot. Dass jetzt immer weniger in einem Krieg kämpfen wollen, der immer weniger gewinnbar scheint, müssen wir respektieren."
Der Autor kommt zu dem Schluss, dass die späte Freigabe der Hilfen durch den US-Kongress und die unentschlossene Politik von Bundeskanzler Scholz in dieser Angelegenheit die Moral der Ukrainer untergraben hätten. Die Soldaten verstünden nicht, warum sie in einer Schlacht kämpfen müssten, die kaum zu gewinnen sei:
"Ohne Taurus-Lieferung fragen sich viele junge Ukrainer, warum sie in einem Krieg sterben sollen, den sie nicht gewinnen können."
Doch dann stellt sich eine andere Frage – nach den ukrainischen Verweigerern, von denen viele auch in Deutschland leben und gegen die sich Selenskijs jüngste Maßnahmen ebenfalls richten:
"Sind die Ukrainer also einfach wehrfaul? Sollten sie ihr Land nicht selbst verteidigen, bevor wir ihnen Taurus-Raketen schicken?"
Nur an der Grenze zu Rumänien und allein in den vergangenen Monaten griffen ukrainische Behörden mehr als 6000 Landsleute auf, die sich mit einer heimlichen Ausreise vor der Einberufung retten wollten.
Zuvor hatte der Chef der europäischen Diplomatie, Josep Borrell, erklärt, dass der Konflikt in der Ukraine ohne die Unterstützung des Westens für Kiew "in zwei Wochen" vorbei wäre. Darüber hinaus fügte der Leiter der europäischen Diplomatie hinzu, dass Meinungsverschiedenheiten in den Vereinigten Staaten über die Hilfe für Kiew und eine sechsmonatige Verzögerung der Lieferungen die Situation "vom Sieg zur Niederlage" führen könnten.
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