Die NATO hatte gerade Geburtstag. 75 Jahre alt wurde das Bündnis, das seine Zeit eigentlich längst überlebt hat. An Gratulanten mangelte es nicht. In Deutschland haben sich die größten Kritiker der NATO, die Grünen, zu den größten Befürwortern des Militärbündnisses gewandelt. Die Konvertiten sind immer die Schlimmsten, eine alte Weisheit, die auch in diesem Fall gilt. Die Grünen sind voll des Jubels, SPD – einstmals Kritikerin der NATO plädiert nun für Aufrüstung und eine neue Ost-West-Konfrontation. Wandel durch Annäherung, Entspannungspolitik und Freundschaft mit Russland – all das, wofür die SPD jahrzehntelang stand und gewählt wurde, ist der Partei heute bestenfalls peinlich. Deswegen wählt sie auch kaum noch jemand.
Gut, dass sich dann in den Applaus der sich selbst euphorisierenden Claqueure auch ein paar kritische Stimmen mischen. Eine davon ist die Politikerin Sevim Dağdelen. Heute erschien im Westend-Verlag ihr Buch über das Militärbündnis. "Die NATO", ist der Titel, "Eine Abrechnung" wurde dem dem Titel hinzugefügt. Dağdelen macht das, was in Deutschland einmal ein Gemeinplatz war: Sie kritisiert die Aggressivität des Bündnisses und weist nach, dass der erhobene Anspruch der NATO und ihr reales Handeln auseinanderfallen.
Die NATO beschreibt sich als Wertebündnis, in dem sich die Demokratien der Welt zusammengetan haben, um Demokratie, die damit verbundenen Werte sowie das Völkerrecht gegen ihre Feinde zu verteidigen. Wie das bei Werbetexten so üblich ist, ist nichts davon wahr. Spätestens seit dem Überfall der NATO auf Jugoslawien ist klar, dass die NATO ein aggressives Angriffsbündnis ist, das den imperialistischen Interessen des Westens dient. Es ist auf Ausdehnung angelegt.
Deutlich wird das schon an der Tatsache, dass die NATO die westlichen Werte nicht mehr nur rund um den namensgebenden nördlichen Atlantik, sondern inzwischen auch im Indopazifik verteidigen will. Konkret heißt das, sie will den westlichen Liberalismus und den damit verbundenen Hegemonialanspruch auch gegenüber China militärisch durchsetzen.
Faktisch ist der NATO und ihren Mitgliedstaaten Demokratie egal. Die NATO macht mit jedem rechten Regime in der Welt gemeinsame Sache, wenn es ihrem Machtanspruch dienlich ist, zeigt Dağdelen anschaulich. Eine Mitgliedschaft erfordert die Abgabe von staatlicher Souveränität an die NATO. Demokratie wird zu diesem Zweck eingeschränkt. Das Konzept der NATO basiert auf dem Prinzip der Mafia. Schutz gibt es gegen Geld. Für das dazu notwendige Gefühl einer Bedrohung sorgt die NATO selbst. Der einzig souveräne Staat innerhalb der NATO sind die USA.
"Die übrigen NATO-Mitglieder sinken innerhalb des Militärpakts zu Klientelstaaten herab wie jene, die einst im Osten des Römischen Reiches als militärische Pufferzone dem Machterhalt des römischen Imperiums dienten. Eine innenpolitische Veränderung, welche die außenpolitische Orientierung hätte in Frage stellen können, war diesen Klientelstaaten bei Strafe des eigenen Untergangs verboten. Um solche Entwicklungen zu verhindern, setzte die NATO zur Zeit des Kalten Kriegs mit ihren Stay-Behind-Gruppen auf eigene Putschorganisationen. Sie verhinderten auch mit terroristischen Mitteln aktiv einen Machtgewinn von politischen Kräften, die die NATO-Mitgliedschaft in Frage stellten."
Mit Demokratie hat das natürlich nichts zu tun. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Pakts wurde die NATO faktisch überflüssig. Dağdelen zeigt, wie sich die NATO ihren eigenen Feind selbst schafft, um weiterhin eine Existenzberechtigung zu haben. Der gesamte Konflikt um die Ukraine geht im Kern auf die Ausdehnung der NATO und die Konfrontation gegenüber Russland zurück. Die NATO übergeht russische Sicherheitsinteressen, überschreitet rote Linien und hat damit das Prinzip kollektiver Sicherheit in Europa faktisch zerstört. Doch die NATO ist dabei, diese Schlacht zu verlieren. Der Krieg in der Ukraine geht verloren. Das wird auch für die NATO weitreichende Konsequenzen haben.
Dağdelen trägt sorgfältig zusammen, belegt den aggressiven Charakter der NATO und verdeutlicht die Gefahren, die vom Militärbündnis für den Frieden in Europa und der Welt ausgehen. Sie tut das mit umfassender Kenntnis und viel Detailwissen. Das macht das Buch lesenswert.
Die NATO hat kaum eine Überlebenschance. In diesem Punkt ist Dağdelen zuzustimmen. Sie überdehnt sich im Versuche, den gesamten Globus unter die westliche, liberale Ordnung zu zwingen und jedes Streben nach Souveränität und Eigenständigkeit im Keim zu ersticken.
Doch ein Manko hat das Buch.
"Beim Nachdenken über Alternativen helfen daher weder idealistische Setzungen noch Maximalforderungen im Namen einer sich selbst radikalisierenden Moral",
schreibt Dağdelen, macht dann aber in ihren abschließenden Vorschlägen genau das.
Zurück zur Diplomatie, fordert sie. Doch wer dieses Zurück durchsetzen soll, bleibt fraglich. Mit der aktuellen Generation aus Politikern ist das nicht umzusetzen. Das gilt im Kern auch für die anderen vier Vorschläge. Dağdelen ist hoffnungsvoll, dass sich eine Kehrtwende erreichen lässt. Das aber ist unwahrscheinlich. Vermutlich werden die Länder der NATO und damit auch Deutschland erst durch ein tiefes Tal und durch ein Feld aus Trümmern wandern müssen, um mit aus tief eingedrungener Erfahrung mit dem Militärbündnis abzuschließen: nie wieder Krieg, nie wieder NATO.
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