Seit dem 10. Januar dieses Jahres heißt es für viele Menschen in diesem Land vermeintlich, sich "eindeutig" positionieren zu müssen. Den Startschuss für ein neu entdecktes "Demokratieverständnis gegen rechts" hatte dabei ein widersprüchlicher und in Teilen inhaltlich unsauber präsentierter Artikel eines Online-Mediums dargestellt. Es folgen seitdem landesweite Proteste auf der Straße wie auch schriftliche Äußerungen in den sozialen Medien – unter dem gemeinsamen Nenner, sich unmissverständlich als Gegner der AfD und mutmaßlicher Sympathisanten bemerkbar zu machen. Nun erfolgte die mediale Bekanntmachung eines "Anti-AfD-Schreibens" von dem Milliardär Reinhold Würth, gerichtet an seine 25.000 Mitarbeiter.
Laut dem SWR handelte es sich um ein fünfseitiges Schreiben. Würth habe sich inhaltlich über eine "außergewöhnliche Nachricht" gegen die AfD positioniert. Weiter heißt es zu Würths Motivation einleitend in dem Artikel:
"Normalerweise äußere sich die Würth-Gruppe nicht zu politischen Themen, 'aber in diesem Fall der AfD sehe ich mich in Übereinstimmung mit Abermillionen deutscher Bürger', schreibt Reinhold Würth mit Blick auf die Demonstrationen gegen Rechtsextremismus. Er schließe sich diesem Protest voll an, so der 88-Jährige."
Würth folgt damit dem aktuellen Reflex vermeintlich prominenter Stimmen, sich einer künstlich geschaffenen Stimmung im Land und daraus resultierenden gesellschaftlichen Entwicklungen anzuschließen. Wörtlich soll es demnach in dem Schreiben an die Angestellten heißen:
"Bloß wegen ein bisschen Spaß an der Freude Rabatz zu machen und aus Unmut über die Ampelregierung die AfD zu wählen, ist einfach zu wenig."
Er sehe ansonsten die Gefahr einer "Demokratur oder gar einer Diktatur", sollte die AfD "an die Macht kommen", so der Vorsitzende des Stiftungsaufsichtsrats der Würth-Gruppe, des weltgrößten Handelsunternehmens für Befestigungstechnik. Das Schreiben wurde laut der zuerst berichtenden FAZ "über die Führungskräfte per Mail und per Intranet des Unternehmens vor allem an die Würth-Mitarbeiter in Deutschland gerichtet".
Würth belehrt laut dem Papier seine Lohnempfänger:
"Steigt man aber nicht nur oberflächlich in die Geschichte ein, dann wird jedem klar, dass zwischen dem AfD-Hype und dem Zulauf der NSDAP in den 30er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts keinerlei Parallelität besteht.
Heute wird nun in vielen Diskussionen eine Parallelität zu der Weimarer Zeit konstruiert, was absoluter Unsinn ist. Rekapitulieren wir einfach einmal, in welcher Zeit wir leben: Im Gegensatz zur Weimarer Zeit muss in unserer heutigen Bundesrepublik Deutschland kein Mensch hungern oder frieren. Die Sozialeinrichtungen des Bundes und der Länder überschütten geradezu die Bedürftigen mit Hilfsangeboten."
Laut FAZ-Zitaten sieht Würth die politische Situation, dass es der Normalfall sei – "auch wenn die AfD das Gegenteil propagiere" -, "dass heute die Bürger in Deutschland wohl etabliert ein eher freiheitliches Leben leben können und einen guten oder mindestens angemessenen Arbeitsplatz haben". Und weiter wörtlich:
"Ich wette, dass der durchschnittliche AfD-Wähler über ein eigenes Auto verfügt und mindestens einmal im Jahr in den Urlaub fährt."
Das Schreiben liegt der FAZ-Redaktion vor. Der Milliardär behauptet des Weiteren zu wissen:
"Was will die AfD im Rahmen dieses Systems ändern? Wir haben solche Freiheit: Jeder kann sagen, Bundeskanzler Scholz ist ein Dummkopf, und wandert dafür nicht für zwei Wochen oder ein halbes Jahr in das Gefängnis. Dagegen steht die Aussage eines AfD-Landtagsabgeordneten, der sagte: Wenn wir morgen in einer Regierungsverantwortung sind, dann müssen wir diesen Parteienstaat abschaffen. Das heißt, man würde mindestens eine Demokratur oder gar eine Diktatur einführen – wollen wir uns das antun?"
Würth fragt seine Mitarbeiter, ob "es uns in diesem Land einfach zu gut geht". Es sei für ihn "eine menschliche Eigenschaft, Erreichtes als selbstverständlich anzusehen und das Erreichte in seiner positiven Wirkung gar nicht mehr zu schätzen", so der Unternehmer. Von der aktuellen Situation im Land schwärmt Würth:
"Ist es nicht wunderbar, dass unser Deutschland eine Ampelregierung aushalten kann, die in vielen Teilen wie ein Hühnerhaufen durcheinanderrennt und doch trotzdem das eine oder andere positive Gesetz auf den Weg bringt? (...) Ich selbst habe einen hohen Respekt vor Herrn Bundeskanzler Scholz, weil er die Taurus-Marschflugkörper nicht aus Deutschland herausgibt. Die Demokratie garantiert, dass die nächste Regierung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine CDU/SPD- oder eine CDU/Grünen-Koalition abgeben wird und die Ampelregierung wird verfassungsgemäß ohne Murren abtreten."
Abschließend appelliert Würth daher an seine Angestellten:
"Meine Empfehlung ist, lassen Sie uns im heutigen System unseres so wunderbaren Grundgesetzes mit unseren unterschiedlichen Meinungen, Vorstellungen und Ideen weiter zusammenleben und schätzen wir wieder, was wir haben: eine Familie, einen Arbeitsplatz, ein Auto, eine Wohnung oder ein Haus, Urlaubsziele, absolute Bewegungs- und Reisefreiheit und die politische Vielfalt der demokratischen Parteien.
Ich appelliere an jede Bürgerin und jeden Bürger und auch an Sie, liebe Mitarbeiter, überlegen Sie, wem Sie bei den verschiedenen Wahlen Ihre Stimme geben."
Würth schließt sich damit einem aktuellen Trend auf Führungsebenen an. So stellte der noch amtierende Bertelsmann-Chef Thomas Rabe in einem aktuellen FAZ-Interview klar: "Wenn die AfD nicht für Toleranz und Weltoffenheit steht, sondern für das Gegenteil, dann widerspricht das den Werten von Bertelsmann diametral. (…) wenn die AfD aber in Umfragen bei 20 Prozent liegt, dann werden auch einige unserer Mitarbeiter sie unterstützen. Diese Mitarbeiter sollten sich prüfen, ob sie zu uns und unseren Werten passen. Wenn nicht, würde ich mir jedenfalls überlegen, ob Bertelsmann das richtige Unternehmen für mich ist."
Leichte Kritik, jedoch mehrheitlich Lob, erhielt Würth kaum überraschend von Karl Lauterbach:
Der baden-württembergische Finanzminister Danyal Bayaz (Grüne) reagierte im Rahmen eines X-Postings: "Danke für die klare Haltung!" Im Jahr 2019 hatte der Milliardär Würth zu Protokoll gegeben, dass er bei der EU-Wahl für die Grünen gestimmt hatte.
Der aktuelle Firmensitz des Milliardärs liegt seit dem Jahr 2013 in Rorschach am Schweizer Bodenseeufer. Würth selbst lebt im Kanton St. Gallen.
Mehr zum Thema – Potsdam, Correctiv und unbeantwortete Fragen: Ein Putsch ganz ohne Rollatoren