Der russische Botschafter Sergei Netschajew hat zu den aktuellen Debatten rund um den Ukraine-Krieg in seinem Gastland Stellung genommen. Seinen Beitrag ließ der Diplomat in der Neuen Osnabrücker Zeitung und auf der Webseite der russischen Botschaft veröffentlichen.
Er stellte fest, dass die antirussische Rhetorik in Deutschland derzeit an Fahrt aufnimmt. Auf hoher politischer Ebene werde etwa gefordert, "die Bundeswehr und die deutsche Gesellschaft kriegstüchtig zu machen, den Krieg nach Russland zu tragen, dort Städte zu bombardieren, russische Ministerien und die Infrastruktur mit modernen deutschen Waffen zu zerstören", kritisierte der Botschafter.
"Das alles kann nur Anlass zu großer Sorge sein und lässt Erinnerungen an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte aufkommen."
Diese Forderungen seien nicht nur realitätsfremd, sondern auch ein Zeichen der Anbiederung an die Interessen der Rüstungsindustrie und an die Strategie der angelsächsischen Eliten, Europa in eine unmittelbare militärische Auseinandersetzung mit Russland hineinzuziehen. In dieser sei den EU-Ländern die Rolle eines Bauernopfers in einem Spiel, das von anderen gespielt wird, zugedacht. Die militaristische Hysterie lenke von inneren Schieflagen ab, "indem man Russland für die negativen Folgen der von Berlin erklärten Zeitenwende verantwortlich macht und Angst vor einem nahenden globalen Konflikt schürt".
"Ich möchte daran erinnern, dass Russland nie eine Gefahr für Deutschland darstellte", erklärte der Botschafter Netschajew.
Er unterstrich, wie vielfältig und für beide Seiten vorteilhaft die Zusammenarbeit zwischen "unseren Ländern und Völkern" war. "Derzeit werden alle Brücken, die uns zusammenhielten, einschließlich der Kontakte zwischen den Menschen, von der deutschen Seite im Eilverfahren zerstört", beklagte der Diplomat und fügte hinzu: "Ich bin überzeugt, dass das den nationalen Interessen Deutschlands und seiner Bürger nicht entspricht." Er machte deutlich, dass Russland eine militärische Eskalation auf dem europäischen Kontinent vermeiden will, und rief Russlands Kontrahenten zu Verhandlungen auf:
"Wir wollen uns nicht in einen globalen Krieg hineinziehen lassen, der die ganze Menschheit an den Rand der Vernichtung bringen würde. Das ist ausgeschlossen, denn es steht im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand."
In den vergangenen Wochen fielen deutsche Politiker jedoch mit Aussagen auf, die in eine andere Richtung weisen.
Finanzminister Christian Lindner (FDP) und die SPD-Spitzenkandidatin für die Europawahl, Katarina Barley, haben sich offen für eine Debatte über eine gemeinsame nukleare Bewaffnung in Europa gezeigt.
Der CDU-Verteidigungspolitiker und Oberst der Bundeswehr, Roderich Kiesewetter, forderte in einem DW-Interview, "den Krieg nach Russland zu tragen". "Russische Militäreinrichtungen und Hauptquartiere müssen zerstört werden. Wir müssen alles tun, dass die Ukraine in die Lage versetzt wird, nicht nur Ölraffinerien in Russland zu zerstören, sondern Ministerien, Kommandoposten, Gefechtsstände", sagte Kiesewetter. Ziel dürfe dabei nicht nur die Zerstörung militärischer Infrastruktur sein.
Zurzeit ist Deutschland zum zweitgrößten Waffenlieferanten der Ukraine aufgestiegen. Zwecks Waffenlieferungen in dieses Land wird die hiesige Rüstungsindustrie derzeit massiv angekurbelt. Letzte Woche machten Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius (beide SPD) den ersten Spatenstich zum Bau eines weiteren Rheinmetall-Werkes zur Herstellung von Artillerie-Munition für die Ukraine.
Als Antwort auf den Tod von Alexei Nawalny forderte jüngst die FDP-Abgeordnete Agnes Strack-Zimmermann, "alles" an Kriegsgerät in die Ukraine zu schicken, "sogar Taurus". Von der Bundesregierung forderte sie eine "rasche Entscheidung".
Deutsche Medien und Militärexperten fabulieren über einen Krieg gegen Russland in fünf oder acht Jahren. Die Bundeswehr müsse deshalb laut Pistorius kriegstüchtig gemacht und die Gesellschaft "wachgerüttelt" werden. Laut dem Ex-Verteidigungsminister Theodor von Guttenberg (CSU) sei es "unsere verdammte Pflicht", sich auf einen "Russen-Angriff" vorzubereiten.
"Der Krieg ist wieder in Mode in einem Land, das sich anscheinend weder daran erinnern will, dass es um 1945 in Trümmern lag, noch dass der verlorene Krieg mit dem Versuch begann, die Russen zu besiegen", schrieb der Publizist Uli Gellermann dazu.
Der Physik-Wissenschaftler Joachim Wernicke zeichnete in einem Aufsatz zehn Schritte deutschen Fehlverhaltens in der Außenpolitik nach, angefangen mit der Täuschung Gorbatschows über die NATO-Osterweiterung bis zum Betrug beim Minsker Abkommen und zur Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine; und "zwar in der Rolle eines Angreifers, denn Russland hatte Deutschland nicht angegriffen, und es bestehen keine Bündnisverpflichtungen gegenüber der Ukraine, weder über die NATO noch über die EU".
Mehr zum Thema - Guttenberg: Vorbereitung auf Russen-Angriff "unsere verdammte Pflicht"