Von Wladislaw Sankin
Landwirte blockierten am Montag mit Traktoren eine Zufahrt zum Rüstungskonzern Rheinmetall im niedersächsischen Unterlüß, um gegen Kanzler Olaf Scholz zu demonstrieren. Schon am frühen Morgen versammelten sich die Demonstranten und versuchten weitere Zufahrten in der Ortschaft zu blockieren, teilte der Norddeutsche Rundfunk mit. Insgesamt nahmen laut Polizeiangaben rund 400 Personen mit 300 Treckern an den Protesten teil.
Was passierte am Montag in der Ortschaft mit 3.500 Einwohnern aber genau? Gelegen ist der Ort in der Lüneburger Heide, zwischen Hannover und Hamburg. Das hiesige Rheinmetall-Areal mit seinem 50 Quadratkilometer großen Testgelände, Kompetenz-und Forschunsgzentrum sowie einer Kanonen- und Panzerfabrik wird nun um eine Munitionsfabrik erweitert. Bereits nächstes Jahr soll das "Werk Niedersachsen" zur Herstellung von Artilleriemunition, Explosivstoffen und Raketenartillerie fertig sein. 200.000 Geschosse sollen hier dann jährlich produziert werden. Bundeskanzler Olaf Scholz und Verteidigungsminister Boris Pistorius weihten die symbolische Grundsteinlegung mit einem Spatenstich ein.
Geschosse aus dem neuen Werk sollen laut NDR künftig an die Panzerhaubitzen geliefert werden, die in der Ukraine an der Front stehen. War das ein Grund für die Bauern und ihre Unterstützer, an diesem Tag nach Unterlüß zu kommen und zu protestieren? Das war zunächst nicht ganz klar. Ein Live-Stream (bis 15:00 Uhr) des YouTube-Kanals Utopia TV lieferte den ganzen Vormittag einen Einblick in das Geschehen. Mehrere hundert Landwirte versammeln sich vor einer Polizeiabsperrung, dahinter standen Trecker und andere Maschinen, wie Hebebühnen und Lieferwagen.
Wie die Streamer berichteten, sollen Scholz und Pistorius mit Helikoptern gekommen sein, zwischen 10 und 11 Uhr seien schon vier Maschinen gelandet. Der Abstand von der Polizeiabsperrung zum Eingang des Rheinmetall-Geländes war groß genug, damit die Protestler nicht in Sichtweite der Regierungsvertreter erschienen. Dafür waren die Demonstranten mit ohrenbetäubendem Hupen aber wenigstens laut. "Wir wollen den Kanzler sehen", skandierte ein Oganisator der Veranstaltung ins Mikrofon.
Laut Utopia TV seien Wagen mit verschiedenen TV-Drehteams auf dem Weg zum Rheinmetall-Gelände aufgekreuzt, keiner der Journalisten sei aber in der Nähe der Demonstranten gesichtet worden. "Die Mainstream-Medien ignorieren die Proteste. Hier findet Hof-Berichterstattung statt", schlussfolgerten die Streamer. Später tauchte jedoch kurz ein ZDF-Team vor der Absprerrung auf (dazu später).
Der NDR bewertet den Bau der neuen Fabrik als "Signal an die Verbündeten, dass Deutschland international Verantwortung übernimmt – und bei den Hilfen für die Ukraine vorangeht." Auch der niedersächsische Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD) sehe in der neuen Produktionsanlage einen "konkreten Beitrag", um die gemeinsame Verteidigungsfähigkeit zu erhöhen.
Laut NDR soll diese Investition das Rüstungsunternehmen rund 300 Millionen Euro kosten, bis zu 500 neuen Arbeitsplätze sollen entstehen. Die Landesregierung freue sich – das kurbele die Wirtschaft in den strukturschwachen Regionen an, so Lies. Der Blick auf die Rüstungsindustrie habe sich nicht zuletzt durch den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine elementar verändert. Lies weiter:
"Wir stehen selbstbewusst und überzeugt hinter den notwendigen Investitionen der Industrie."
Laut dem Ortsbürgermeister von Unterlüß, Kurt Wilks, stünden die Einwohner in weiten Teilen hinter der Waffenproduktion. Die neue Fabrik habe "eine ganz besondere Bedeutung für den Ort und die Gemeinde." Die Vorberichterstattung der Medien erweckte indes den Eindruck, dass die Demonstration der Bauern gegen den Bau der Munitionsfabrik gerichtet sei.
Laut der örtlichen Presse sei auch die Friedensaktion Südheide bei den Protesten mit einer Mahnwache vertreten. In einer Pressemitteilung der Veranstalter der Mahnwache heißt es:
"Wir protestieren damit nicht nur gegen die Grundsteinlegung für die große und teure Munitionsfabrik auf den Rheinmetall-Gelände in Unterlüß, sondern insgesamt gegen die wahnwitzige Rüstungs- und Kriegspolitik der Bundesregierung."
Man unterstütze mit der Aktion auch "den berechtigten Protest" der Landwirte vor Ort, hieß es weiter. "Die Bauern sind kein Teil der Friedensbewegung, aber sie können rechnen und sie wissen, dass ein Euro, der für Militär und Rüstung ausgegeben wird, überall in unserem Land, also auch bei ihnen, fehlt", stellten die Friedensaktivisten klar.
Die landesweiten Bauernproteste im Dezember und Januar haben bislang so gut wie keine Ergebnisse gebracht. Geblieben ist aber ein Protestler-Netzwerk, das sich bei entsprechender Gelegenheit leichter als zuvor mobilisieren lässt. Viele Bauern und Handwerker, mit denen ich im Januar am Rande der Protest-Aktionen gesprochen habe, sahen einen direkten Zusammenhang zwischen der Steigerung der Finanzhilfen an die Ukraine, den massiven Waffenlieferungen und den sonstigen Militärhilfen für dieses Land und auf der anderen Seite Budget-Kürzungen im Inland. Viele äußerten sich ausdrücklich friedensorientiert und traten in Gesprächen gegen Waffenlieferungen für die Ukraine auf.
Die Proteste waren aber dezentral und politisch führungslos. Der Präsident des Bauernverbandes Joachim Ruckwid – selbst ein Großunternehmen und CDU-Funktionär – war keine Protestfigur im politischen Sinne. Die Stimmung der Landwirte war indessen klar gegen die Ampel-Regierung gerichtet, wobei die Ukraine-Politik zu den Reizthemen gehörte. Allerdings war sie bei den Kundgebungen nie das Thema, denn es kamen nur Verbandsfunktionäre auf die Bühne.
Auch am Montag in Unterlüß haben die Veranstalter versucht, so weit wie möglich das usprüngliche Protest-Thema von den Protesten gegen den Fabrikbau zu trennen. Der einzige Politiker, der eine kurze Ansprache an die Versammelten hielt, war der CDU-Abgeordnete vom Wahlkreis Celle, Henning Otte. Er versprach Kanzler Scholz noch einmal das Anliegen der protestierenden Bauern zu übermitteln. Für seine kurze Rede erntete er Applaus – die Bauern waren offenbar froh, dass wenigstens jemand zu ihnen sprach.
Der CDU-Politiker Henning steht in außen-und sicherheitspolitischen Fragen komplett auf den Positionen seiner Partei. Er tritt zum Beispiel für den Ausbau der Bundeswehr-Einsätze in der Sahel-Zone auf, wie er in einer Rede im Bundestag deutlich machte. Den erzwungenen Rückzug Frankreichs aus Afrika sieht er als Signal für Deutschland, auf diesem Kontinent "mehr Verantwortung zu übernehmen". Sein Parteikollege Roderich Kiesewetter will den Krieg auf russisches Territorium verlagern. Parteitaktisch sympatisiert die CDU als offizielle Oppositionspartei mit den Bauernprotesten, trommelt aber für die Fortsetzung des Krieges gegen Russland mit allen Mitteln.
Kurz vor 13 Uhr passierte etwas Merkwürdiges (zu sehen auf dem Utopia TV-Kanal): Ein Mann mit einem Plakat tauchte in Begleitung von zwei Polizisten auf. Solange er sich den Protestlern näherte, hielt er sein Plakat so umgedreht, dass niemand den Schriftzug darauf lesen konnte. Direkt hinter ihm bewegte sich ein ZDF-Team, das sich den Demonstranten ebenfalls näherte. Der Mann stellte sich schließlich an den Rand der Menschenmenge und hielt sein Plakat hoch. Der Schriftzug darauf lautete: "Für Freiheit und Demokratie. Mehr Waffen für die Ukraine und Deutschland". Diesen Text fanden die Leute provozierend und es kam zum Streit. Nach einem kurzen Gerangel wurde der Mann von der Polizei zur Seite geführt. Das ZDF filmte die gesamte Szenerie.
Wenig später nahm der Sender ein Kurz-Interview mit dem Organisator der Aktion auf. Auf Nachfrage des TV-Korrespondenten sagte er ausdrücklich, dass die Versammelten nicht gegen den Bau der Munitionsfabrik protestieren würden, sondern gegen die Kürzungen beim Agrardiesel. Später sagte er vor den Bauern:
"Uns geht es nicht um Waffen, sondern um Lebensmittel."
Das Agieren des ZDF-Teams löste bei den Versammelten Empörung aus. Sie verdächtigten den TV-Korrespondenten der Manipulation, um die Proteste als Anti-Kriegsprotest darzustellen, wobei ausgerechnet einer Gegenstimme Gehör verschafft würde.
"Ich bin auch unzufrieden damit, was das ZDF gemacht hat. Nun werden wir den Fehler nicht wiederholen und werden unsere Plakate ganz nach vorne tragen, damit es sichtbar wird, wogegen wir protestieren", sagte der Anmelder der Protestaktion. Sämtliche Plakate waren an den Treckern angebracht, die hinter der Menge versteckt waren. Um Neuwahlen oder Waffen ging es bei diesen Plakaten nie.
Die Bauern und viele andere arbeitende Menschen aus Handwerk, Logistik und Produktion stellten sich während der großen Protestwoche im Januar mehrheitlich gegen die Ampel-Regierung und forderten auf ihren Plakaten Neuwahlen – "inoffiziell". Die Frustration dieser Menschen ist groß. Genauso "inoffiziell" hat die gefühlte Mehrheit der Bauern gegen die aktuelle Militarisierung Deutschlands und die Ukraine-Politik protestiert – vermutlich solange ihre Arbeitsplätze nicht von der Rüstungsindustrie abhängig sind.
Nun gehen die Proteste in diesen Tagen in viel kleinerem Format weiter. Sowohl Verbandsfunktionäre als auch Anmelder achten jetzt aber offenbar strenger darauf, dass die Forderungen beim "Diesel" bleiben und keine weitere politische Reizthemen berühren. Die peinliche Klarstellung "Wir sind Friedensbauern, aber wir protestieren nicht gegen den Bau der Munitionsfabrik" zeigt nun eindrücklich, dass das anfängliche Volksaufbegehren innerhalb nur weniger Wochen zu einer marginalen Randerscheinung degradiert wurde. Von wem und wie – das wäre das Thema für einen weiteren Artikel.
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