Von Wladislaw Sankin
Am 27. Januar jährt sich zum 80. Mal das Ende der Leningrader Blockade. Die Blockade Leningrads dauerte 872 Tage, vom 8. September 1941 bis zum 27. Januar 1944, und gilt als schrecklichste Belagerung einer Stadt in der gesamten Menschheitsgeschichte. Mehr als eine Million Menschen fielen Beschuss, Bombardierungen und vor allem Hunger und Kälte zum Opfer. Das Aushungern der Stadt war entgegen der gängigen Geschichtsnarrative keine Kriegshandlung, sondern Bestandteil der noch vor Beginn des Angriffs auf die UdSSR beschlossenen genozidalen Hungerpolitik des Hitlerfaschismus auf dem Gebiet der Sowjetunion.
Anlässlich des Jahrestages fand am Fuße der Befreier-Statue im Treptower Park eine Gedenkzeremonie mit rund 30 Teilnehmern statt. Die Versammelten legten Blumen nieder und hielten kleine Gedenkreden. So äußerte Oleg Eremenko, der Nachfahre des Armeegenerals und Helden der Sowjet Union Nikolai Ljaschtschenko, seine Dankbarkeit an die Berliner für das Erinnern – im Namen aller russischen Veteranen und Blockadeüberlebenden. Sein Großonkel hat mit der kampflosen Übernahme Greifswalds und der Unterzeichnung des sogenannten Barber-Ljaschtschenko-Abkommens deutsche Nachkriegsgeschichte geschrieben.
Die Idee zu der Aktion kam im Zuge der Gedenkveranstaltung im Berliner Anti-War-Café am Vortag, teilten die Teilnehmer gegenüber RT DE mit. Das sowjetische Ehrenmal im Treptower Park ist Ruhestätte für ca. 8.500 gefallenen Rotarmisten und seit vielen Jahren ein Versammlungsort für Gedenkzeremonien und Siegesfeiern am 9. Mai.
Der 27. Januar könnte damit zu einem weiteren Datum im Terminkalender für all diejenige werden, die das Gedenken an die Lehren des Zweiten Weltkriegs für wichtig halten. Solch einen Wunsch äußerten zumindest die RT-Gesprächspartner an diesem Tag. "Hier, in den Arbeitervierteln von Treptow waren viele Arbeiter, die während der Blockade die Sowjetunion unterstützt und heimlich Radio Moskau gehört haben und die gefiebert haben für die Befreiung Leningrads. Das war eine Sache der ganzen Welt und nicht die nur einer Stadt", sagte der Teilnehmer Dr. Martin Krämer. Der Agraringenieur kam mit seiner kleinen Tochter im Babytuch und brachte eine Trompete mit. Das Wunschlied an dem Tag war das berühmte sowjetische Gesangsstück "Der heilige Krieg".
Auch der Theaterregisseur Peter Wittig war dabei. "Ich würde mir wünschen, dass die Politik in Deutschland anerkennt, was geschehen ist. Die Blockade Leningrads war ein Völkermord. Es ist richtig, dass die jüdischen Opfer der Blockade entschädigt worden sind. Es ist falsch, dass der nicht jüdischen Opfer – der russischen und der anderer Völker der Sowjetunion nicht gedacht wird. Im deutschen Bewusstsein sind die sechs Millionen ermordeten Juden einigermaßen verankert. Aber die 27 Millionen sowjetischen Toten sind nicht verankert, und das ist schlimm", sagte er.
In den offiziellen Stellungnahmen der Bundesregierung wird an die Blockade erinnert. "Deutschland bekennt sich ausdrücklich zu seiner historischen Verantwortung", steht in einem am Samstag veröffentlichten Artikel auf der Webseite des Auswärtigen Amtes. Die deutsche Wehrmacht habe in Leningrad Gräuel begangen. Die Behörde erinnert auch an die im Jahre 2019 beschlossene "humanitäre Geste" gegenüber den Überlebenden der Leningrader Blockade – ein Zuschuss in Höhe von 12 Millionen Euro für die Modernisierung einer Veteranen-Klinik.
Zum anderen fördert die Bundesregierung in Sankt Petersburg Begegnungen junger Menschen mit Blockadeopfern – "die Erinnerung an die Blockade soll gestärkt und weitergegeben werden." Aber auch dieser Satz darf im Text nicht fehlen:
"Deutschland steht zu seiner historischen Verantwortung und setzt diese Maßnahmen – trotz des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine – weiter fort."
"Keine Opfer des Holocausts"
Im September letzten Jahres appellierten die noch verbliebenen Verteidiger Leningrads und Überlebenden der Blockade an die deutsche Regierung, die humanitären Zahlungen auf alle Überlebenden der Blockade auszuweiten. Sie betonten, dass die deutschen Behörden den jüdischen Überlebenden der Blockade seit langem humanitäre Leistungen zukommen ließen, sich aber weigerten, diese auf alle Überlebenden der Blockade ohne ethnische Unterscheidung auszuweiten. In ihrem Appell wiesen sie auch darauf hin, dass das Projekt zur Modernisierung eines Krankenhauses in Sankt Petersburg als Teil der "humanitären Geste" nie umgesetzt worden sei.
"Der grausame Kalkül der Nazis, die ganze Bevölkerung des unbeugsamen Leningrads durch Kälte und Hunger auszumerzen, sah keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität vor. Die Einwohner unserer Stadt waren ungeachtet ihrer Nationalität gleich vor dem qualvollen Tod, den ihnen die Hitler-Ungeheuer bereiteten", so die Verfasser.
Die Weigerung der Bundesregierung, die Entschädigungszahlungen auch auf die nicht-jüdischen Überlebenden der Blockade auszuweiten, ist seit mehreren Monaten Gegenstand eines diplomatischen Streits. Die russischen Diplomaten äußern ihrerseits scharfe Kritik und werfen Deutschland Diskriminierung nach ethnischen Kriterien vor.
Das russische Außenministerium machte die Absage der deutschen Seite erst Ende November publik. Die Pressesprecherin des russischen Außenministeriums, Maria Sacharowa, nannte die Haltung der deutschen Behörden "inakzeptabel" und "ungeheuerlich", die Begründungen "nicht schlüssig". Außenminister Sergei Lawrow führte die Argumente der deutschen Seite während seiner jährlichen Pressekonferenz letzte Woche an: "'Wir zahlen an die Juden, weil wir ein Gesetz haben, das uns dazu verpflichtet, die Opfer des Holocausts zu entschädigen, aber die anderen, die in Leningrad gestorben sind, sind keine Opfer des Holocausts.'" Lawrow resümierte:
"Die Absurdität einer solchen Erklärung der Frage ist offensichtlich."
Im Schatten von Auschwitz
Die Erinnerung an die Blockade Leningrads ist in den Täter-Staaten Deutschland und Finnland kein Thema für die Öffentlichkeit. Nur sporadisch finden sich aufklärerische Artikel in den Medien oder Podiums-Diskussionen, die allerdings kein breites Publikum erreichen. Gepflegt wird die Erinnerung vor allem von der älteren DDR-Generation, die intensive Kontakte zu Sowjetunion hatte. Auf der mentalen Karte der Bundesrepublik fehlt dieses Ereignis nach wie vor, und es gibt im Moment keine Anzeichen dafür, dass dieses Thema von der Politik je angemessen gewürdigt wird. Außerdem stellt ein anderer Jahrestag die Blockade-Erinnerung in den Schatten, wie RT DE schon berichtete – der Tag der Befreiung von Auschwitz.
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