Von Wladislaw Sankin
Als Christian Lindner seine Rede anfängt, heult eine Kettensäge auf und schwarze Rauchschwaden steigen über tausenden Köpfen gen Himmel auf. Irgendeiner hat extra auf diesen Moment gewartet. Die Bauern-Jugend ist auffällig zahlreich vertreten und nimmt auch am Pfeifkonzert teil. Es ist aber nicht so, dass die Leute Lindners Rede grundsätzlich ablehnen. Sie hören ihm zu und reagieren auf das Gesagte unterschiedlich laut. Irgendwann sagt er:
"Mit dem Krieg in der Ukraine sind Frieden und Freiheit in Europa wieder bedroht, weshalb wir wieder wie früher in unsere Sicherheit investieren müssen."
Als das Wort "Ukraine" fällt, erreicht der Pegel der Geräusch-Kulisse aus Buh-Rufen die höchste Lautstärke an diesem Tag. Es ist so etwas wie der gemeinsame Geist, der die Menschen in diesem Moment bewegt. Ihre Stimmbänder drücken das angestaute Unbehagen über die "Berliner Blase" aus. In den milliardenschweren Ukraine-Hilfen verbindet sich die Widersprüchlichkeit der deutschen Innen- und Außenpolitik zu einem Gordischen Knoten, den die Bauern eigentlich gern mit einem einzigen Beilschlag lösen würden.
Fast jeder, mit dem ich in diesen Tagen spreche, sagt das Gleiche: Gern würden sie die Milliarden, die Berlin für Waffen im Ukraine-Krieg ausgibt, im Inland investiert sehen. Zitat des Landschaftsbauers Markus: "Man kann das Geld nicht ins Ausland hauen und hier reicht es nicht. So funktioniert das nicht." Und überhaupt – Deutschland sollte sich grundsätzlich aus den westlichen Militärabenteuern heraushalten, erst recht, wenn sie gegen die atomare Großmacht Russland gerichtet sind.
Aber in der bundesdeutschen Parteiendemokratie ist dem nicht so. Ampel weg? "Umsturzfantasien", sagt Habeck stellvertretend für die ganze Führungsklasse. Neuwahlen wird es nicht geben und ein Generalstreik ist nicht erlaubt. Wir sind gewählt worden und dürfen das durchziehen, was wir für nötig halten, sagen die Vertreter der Regierungsparteien dem naiven Wahlvolk ins Gesicht. Dieses glaubt aber, in einer Demokratie zu leben – wenn die Regierung nicht mehr vom Volk unterstützt wird, müsse sie weg. Landschaftsbauer Markus: "Wenn ein Olaf Scholz sich hinstellt und sagt 'Ich räume den Posten nicht', hat das mit Demokratie nichts zu tun. Wenn die Mehrheit ihn nicht mehr möchte, heißt es dann, dass man auch geht."
Im Moment, als Markus das sagt, packt Robert Habeck seinen Koffer, um am nächsten Tag nach Davos zum WEF zu fliegen. Christian Lindner kommt ihm nach – ein schöner Ausflug aus dem rauen Berlin in die schöne Schneelandschaft. Da sind Sekt und Häppchen, da ist man unter sich, keine grimmigen Landwirte, Schlepperfahrer, Gerüstbauer und sonstigen Arbeiter mit ihren Kettensägen und Galgen-Nachstellungen. Die Ampelregierung hofft, die Proteste auszusitzen.
Aber die Bauern haben etwas angestoßen und die Bundesrepublik verändert. Landschaftsbauer Markus: "Die Bauern haben den Startschuss gegeben und die Bürger wachen langsam auf und merken, was mit ihnen passiert." Selbst Lindner musste einräumen: Die Sympathie der Öffentlichkeit sei auf der Seite der Bauern. Mit Glaubwürdigkeit bringen sie enormes Mobilisierungspotenzial, Ausdauer und Disziplin mit. Was Lindner und der Verbandsvorsitzende Rukwied nicht erwähnen: Es sind bei weitem nicht nur Bauern unterwegs. Bereits am Montag haben sich auch die Spediteure offiziell den Protesten angeschlossen. Ebenso Vertreter der Handwerke, des Baugewerbes, der Gastwirtschaft und vieler anderer Bereiche machen von Anfang an mit. "Wir sind weder rechts noch links, wir sind genau die Mitte, ganz normale Bürger", so Markus. Das ist der höfliche Aufstand der Malocher.
Für die Protestler ist es von Vorteil, dass sie mit keiner politischen Partei oder Richtung in Verbindung gebracht werden. Natürlich kochen zumindest die AfD und CDU am Rande der Proteste ihr politisches Süppchen mit. Aber mit Parteien haben sie vorerst nichts zu tun. Das hat allerdings den Nachteil der Führungslosigkeit. Für jeden Korso gibt es Anmelder, und das war es schon an Führung. Der Großagrarier und CDU-Funktionär Joachim Rukwied kann als Teil des Systems, das die Kürzungen auch hervorgebracht hat, natürlich kein Anführer der Proteste sein.
Die Niederlage, die die Bauern und ihre Mitstreiter am 15. Januar erlitten haben, hat sie aber gleichzeitig stärker gemacht. Keiner von ihnen war je so naiv zu glauben, dass die erste Protestwoche zum Sturz der von ihnen verhassten Ampelregierung führen wird. Was jedoch durch diese Proteste entstand, ist der Schulterschluss mit verwandten Branchen und die soziale Vernetzung. Es war auffällig, wie viele Blogger, Bürger-Reporter oder einfache Protestteilnehmer mit Kameras unterwegs waren. Eine eigene mediale Infrastruktur ist geschaffen worden, die hauptsächlich auf Plattformen wie TikTok, Youtube und Telegram präsent ist und inzwischen von hunderttausenden Nutzern regelmäßig konsumiert wird.
Bislang waren die Kundgebungen ein Protest, und da die Demonstranten nicht aufgeben wollen und zu ihnen auch immer neue Unterstützer stoßen, wird in den nächsten Wochen und Monaten mit großer Wahrscheinlichkeit eine dezentral funktionierende Protestbewegung entstehen. Die nächsten Aktionen sind schon angekündigt und die Mahnwache an der Straße des 17. Juni zieht vorerst nicht ab.
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