Von Daniel Schrawen
Im Vorfeld der Bauernproteste war immer wieder von einem "Generalstreik" die Rede. Spätestens als bekannt wurde, dass sich weitere Berufsgruppen wie Spediteure und auch Handwerker den Protesten anschließen und die Lokführergewerkschaft GDL ebenfalls einen dreitägigen Streik plante, war das Wort "Generalstreik" in aller Munde. Berufsverbände und Gewerkschaften distanzierten sich jedoch recht schnell von entsprechenden Aufrufen. Der Bauernverband erklärte, dass er nur zu "friedlichem und demokratischem Protest" aufruft. Verbandspräsident Joachim Rukwied warnte zudem vor extremistischen Gruppierungen, die die Proteste unterwandern könnten. Dabei hatte er auf einer Demonstration im Dezember noch von Protest gesprochen – "in einer Art und Weise, wie es das Land noch nicht erlebt hat".
In zahlreichen Mainstream-Medien, darunter die Deutsche Welle (DW), die Rheinische Post und der MDR, wurde zudem eilig klargestellt, dass es sich bei den Bauernprotesten nicht um einen Generalstreik handle und dieser in der Bundesrepublik sowieso verboten sei. Doch woher kommt diese Angst des politisch-medialen Establishments?
Hintergrund dieser entsprechend panisch daherkommenden Berichte ist (neben der vermeintlichen Gefahr einer "Unterwanderung") die Tatsache, dass in der Bundesrepublik ein enorm restriktives Streikrecht gilt.
Politische Proteste sind laut Grundgesetz zwar erlaubt, anders sieht es jedoch beim Thema Arbeitsniederlegung aus: Oft wird, wie zum Beispiel in einem Artikel der DW, behauptet, dass politische Streiks in Deutschland verboten seien.
In der Bundesrepublik (ein bisschen) verboten: Politische Streiks
Streiks sind in Deutschland demnach nur als Mittel zum Zweck des Abschlusses von Tarifverträgen vorgesehen. Ein Generalstreik, der ein ganzes Land lahm legt, wäre in Deutschland "rechtswidrig", wenn mit ihm ein politisches Ziel verfolgt wird. Ein Streik sei demnach im Kampf für bessere Lohnabschlüsse legitim, nicht aber, wenn mit ihm andere politische Ziele verfolgt werden. Laut einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 1971 unterliegen Streiks zudem dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Demnach dürfe durch sie das Gemeinwohl "nicht offensichtlich verletzt werden". Dies gilt insbesondere für zentrale Bereiche wie Krankenhäuser, Versorgungs- und Entsorgungs- oder Verkehrsbetriebe. Daneben gibt es noch eine weitere Möglichkeit des politischen Streiks, welche allerdings umstritten ist. Diese wird durch Artikel 20 des Grundgesetzes garantiert, in dem es heißt:
"Alle Deutschen haben das Recht zum Widerstand gegen jeden, der die freiheitlich-rechtliche Grundordnung beseitigen will."
Allerdings darf in einem solchen Fall nur Widerstand gegen nachweislich undemokratische Gruppierungen geleistet werden. Politische Entscheidungsträger für unfähig zu halten, wäre in den meisten Fällen vermutlich unzureichend; es müsste ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber bestehen, dass diese vorsätzlich handeln. Doch im Endeffekt kann man davon ausgehen, dass solche juristischen Spitzfindigkeiten in der Praxis vermutlich irrelevant sind, denn wenn erst einmal ein Regime vorherrscht, das die Absicht hegt, die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu beseitigen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Justizapparat bereits korrumpiert sein.
Wesentlich interessanter sind jedoch die geschichtlichen Hintergründe, die zum "Verbot" eines Generalstreiks in der Bundesrepublik geführt haben. Warum gibt es in der heutigen Bundesrepublik ein entsprechendes "Verbot"? Die Gründe hierfür lassen sich von den heutigen Protesten über einen Nazi-Juristen, der das restriktive Streikrecht in der BRD wesentlich prägte, bis hin zu den westdeutschen Arbeiteraufständen 1948, dem Wirken Ludwig Erhards und den Anfängen der sogenannten "sozialen Marktwirtschaft" zurückverfolgen.
Ein Nazi-Jurist und die "unternehmerische Persönlichkeit"
Genaugenommen gilt der politische Streik in der Bundesrepublik erst seit den Streiks der Zeitungsbetriebe 1952, bei denen Beschäftigte für mehr Rechte im Betriebsverfassungsgesetz kämpften, als verboten. Der Urteilsspruch von 1952 durch das Freiburger Landesarbeitsgericht und damit auch das heutige enorm restriktive deutsche Streikrecht geht im Wesentlichen auf den späteren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Hans Carl Nipperdey zurück, der bereits im Nationalsozialismus Karriere als Arbeitsrechtler gemacht hatte. Das Urteil entspricht im Wesentlichen seinem Gedankengut während seiner Zeit als Nazi-Jurist, in der er die Reste des Weimarer Arbeitsrechts beseitigte, das "Führer-Prinzip" in den Betrieben verankerte und von einer Pflicht der Arbeitnehmer als "Gefolgsleute gegenüber dem Gefolgschaftsführer" sprach.
Im Prozess um den Druckereistreik erfand Nipperdey die "unternehmerische Persönlichkeit", die ein vermeintliches Grundrecht habe, sich zu entfalten. Es sei "erste Bürgerpflicht", dieser zu folgen. Spätere Generationen haben diese Rechtsauffassung einfach beibehalten. Einige Juristen sehen derartige Rechtsprechungen mittlerweile jedoch als veraltet an. Zudem gab es in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik immer wieder zaghafte Forderungen von Gewerkschaften, politische Streiks zu legalisieren. Die IG Metall rief im Jahr 2007 beispielsweise zu "Protesten während der Arbeitszeit" gegen die Rente mit 67 auf; daran beteiligten sich 300.000 Beschäftigte.
Gegen die Streikenden wurden im Übrigen keine rechtlichen Schritte eingeleitet. In den darauffolgenden Jahren ist die Debatte über die Legalisierung politischer Streiks jedoch versandet. Erstaunlicherweise konnte man allerdings im Jahr 2016 auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung noch Sätze wie die folgenden lesen:
"Auch in Belgien, Italien, Spanien, Portugal, Griechenland sind Generalstreiks gegen sozialpolitische Entscheidungen demokratische Normalität. In Deutschland dagegen stehen der politische Streik und Generalstreik immer noch unter dem Verdacht der Umstürzlerei und Revolution. Bis heute ist mit den Streikverboten die Angst vor der eigenständigen politischen Tätigkeit der Arbeitenden gewissermaßen institutionalisiert."
Heute wird man derartige Einschätzungen wohl vergeblich suchen, da derzeit die "Falschen" demonstrieren und die Medien-Maschinerie damit beschäftigt ist, jegliche regierungskritischen Proteste als "rechts" oder "von rechts unterwandert" zu diskreditieren. Genaugenommen handelt es sich dabei um einen der größten Treppenwitze der Geschichte, da frühere Proteste im Verdacht standen, "kommunistisch unterwandert" zu sein, doch dazu gleich mehr.
Das von Nipperdey geprägte Verbot politischer Streiks bezog sich zwar auf den Druckereistreik von 1952. Prägend für den Urteilsspruch war jedoch der einzige De-facto-Generalstreik in der britischen und US-amerikanischen Besatzungszone Deutschlands im November 1948, welcher letztlich auch den damaligen Diskurs um die Soziale Marktwirtschaft entfachte.
Vom US-Militär niedergeschlagen: Der vergessene westdeutsche Arbeiteraufstand im Jahr 1948
In der heutigen Bundesrepublik wird im Rahmen der extrem einseitigen Gedenkkultur bekanntlich jedes Jahr vehement an den Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR erinnert. Doch auch in der "Westzone" kam es 1948 zu ähnlichen Aufständen und einem De-facto-Generalstreik, welcher von den Alliierten und dem damaligen politischen Establishment der "Westzone" als so bedrohlich wahrgenommen wurde, dass Generalstreiks wenige Jahre später als verboten galten. Detailliert darüber berichtet hat unter anderem der Journalist Florian Warweg.
Ursache für die Proteste war die Wirtschafts- und Währungsreform vom 20. Juni 1948 unter Leitung von CDU-Politiker Ludwig Erhard (damals Leiter des Wirtschafts- und Verwaltungsrats der Westzone), die drastische Preiserhöhungen von bis zu 200 Prozent, bei einzelnen Lebensmitteln wie Eiern sogar bis zu 2.000 Prozent, verursachte. Diese führten in der Folge zu einer stark gesunkenen Lohnquote.
In der sogenannten Bizone Deutschlands (dem britischen und US-amerikanischen Besatzungsgebiet) kam es daraufhin nach verschiedenen Gewerkschaftsaufrufen im Jahr 1948 fortlaufend zu großen Demonstrationen in vielen Städten. Ein frühes Zentrum der Proteste war die Stuttgarter Industrieregion. Dort wurden am 28. Oktober 1948 Streiks und Proteste für Preisregulierung, Lohnerhöhung und Mitbestimmung durchgeführt, bei denen unter anderem "Fort mit Professor Erhard!" skandiert wurde. Die Demonstranten trugen zudem einen Galgen mit einem Schild, auf dem zu lesen war: "Weg mit dem Preiswucher – oder …!" (Ein Schelm, der Parallelen zur heutigen Zeit zu erkennen vermag).
Im Anschluss an die Proteste kam es zu schweren Unruhen, die von den US-Besatzungstruppen niedergeschlagen wurden. Das US-Militär setzte zwölf schussbereite Panzer und eine mit Maschinengewehren und Tränengas ausgerüstete Kompanie ein; auf beiden Seiten gab es zahlreiche Verletzte. Der Militärgouverneur der US-amerikanischen Besatzungszone, General Lucius Clay, verhängte in Reaktion auf die "Stuttgarter Vorfälle" umgehend eine Ausgangssperre und witterte eine "kommunistische Verschwörung" hinter der Protestwelle.
Der eigentliche Generalstreik fand am 12. November 1948 daher nur unter strengen Auflagen der Besatzungsmächte statt, in der französischen Besatzungszone war dieser unter Androhung drakonischer Strafen ganz verboten.
Obwohl es damals nur etwa vier Millionen gewerkschaftlich organisierte Arbeiter gab, nahmen am Generalstreik etwa 9,2 Millionen Arbeitnehmer aus Industrie, Handwerk, Handel und Verkehrswesen teil. Das entsprach 79 Prozent der damals 11,7 Millionen Beschäftigten in der Bizone. Angesichts der vorherigen Niederschlagung der Stuttgarter Proteste durch das US-Militär verzichteten die Gewerkschaftler auf Kundgebungen und Versammlungen, lediglich Arbeitsniederlegungen waren geplant.
Auch bei den Ereignissen im Jahr 1949 handelte es sich eindeutig um politische Streiks, denn der Protest richtete sich nicht nur gegen die Währungspolitik, es wurde auch die Systemfrage gestellt. Dies zeigt sich deutlich an der Tatsache, dass die Demonstranten eine Planung und Lenkung im gewerblich-industriellen Sektor, die Überführung der Grundstoffindustrie und Kreditinstitute in Gemeineigentum und eine Demokratisierung der Betriebe sowie eine gleichberechtigte Mitwirkung der Gewerkschaften forderten.
Ludwig Erhard und die Lügen über die soziale Marktwirtschaft
In der einseitigen Geschichtsschreibung der Bundesrepublik sind die Arbeiteraufstände von 1948 weitgehend vergessen, stattdessen konzentriert man sich lieber auf die Repression von Protesten in der DDR. Abgesehen davon könnte dies womöglich einen Schatten auf die USA und den zentralen Protagonisten des "Wirtschaftswunders" werfen.
Einige Historiker sehen den Streik von 1948 als gescheitert an, da die Demonstranten ihre zentralen Forderungen wie die nach einer Demokratisierung der Wirtschaft nicht durchsetzen konnten. Komplett erfolglos war der Protest jedoch nicht, denn der damalige CDU-Vorsitzende Konrad Adenauer forderte Erhard in einem Telegram dazu auf, mit allen "zur Verfügung stehenden Mitteln gegen unbegründete Preissteigerungen" vorzugehen und die "Angleichung zurückgebliebener Löhne und Bezüge an das Preisniveau zu beschleunigen". Kurz darauf wurden erste Lohnerhöhungen genehmigt und Maßnahmen gegen die Preissteigerungen ergriffen (beispielsweise das Vorgehen gegen Wucher oder die Einführung des "Jedermann-Programms").
Arbeiten von Historikern wie Jörg Roesler und Uwe Furmann belegen zudem, dass Erhard durch die Stuttgarter Proteste, den Generalstreik, den Deutschen Gewerkschaftsbund und den SPD-Politiker Erik Nölting zunehmend unter Druck gesetzt wurde. Dieser Druck war letztlich eine Art "Initialzündung" für die sogenannte "soziale Marktwirtschaft". Unter den Mitarbeitern Erhards gab es zwar auch Ordoliberale, der Einfluss dieser wird jedoch als gering eingeschätzt. Zu Beginn seiner Karriere plädierte der in der bundesdeutschen Geschichte stark verklärte Erhard noch zu 100 Prozent für eine freie Marktwirtschaft.
Erst nach dem Eindrücken des Generalstreiks und seiner Vorgeschichte redete Erhard im Diskurs zunehmend von einer "sozialen Marktwirtschaft", welche zumindest eine gewisse staatliche Planung und ein Mitspracherecht der Arbeitervertreter zur Folge hatte. (Dass diese nicht so sozial war, wie immer behauptet wird, und in den vergangenen Jahrzehnten immer unsozialer wurde, ist wiederum ein anderes Thema.) Überspitzt lässt sich also sagen:
Die soziale Marktwirtschaft war nicht Ludwig Erhard zu verdanken, denn dieser bevorzugte zunächst eine freie Marktwirtschaft.
Sie ist schon gar nicht der US-amerikanischen Besatzungsmacht zu verdanken, welche die Stuttgarter Proteste mit dem Militär niederschlug. (Angesichts der Entwicklung des hyperkapitalistischen US-amerikanischen Systems wäre diese Vorstellung allerdings ohnehin absurd.)
Die soziale Marktwirtschaft wurde auf der Straße erkämpft.
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