Von Wladislaw Sankin
Das Dröhnen dutzender Motoren kündigt den baldigen Beginn des Autokorsos an. Es ist kurz vor sieben, unser kleines Drehteam steht im Licht der Autoscheinwerfer und macht Nahaufnahmen von den Plakaten, die an der Front von Traktoren und verschiedenen Lieferwagen angebracht sind. Ihre Slogans lauten: "Ohne Landwirte gibt es keine Zukunft!" "Wenn die Wirtschaft stirbt, stirbt das Land", "Die Bauern gehen nicht für sich selbst auf die Straße, sondern für euch alle!". Das Dorf Mehrow liegt nur wenige Kilometer von der Grenze zwischen Berlin und Brandenburg entfernt. 500 Menschen leben hier. An diesem frostigen Morgen des 8. Januar befinden sie sich im Epizentrum der Proteste, die ganz Deutschland erfassen und die mindestens eine Woche andauern werden.
Zehntausende schwere Maschinen werden an diesem Tag durch Hunderte Städte fahren, die Autobahnen blockieren und ihre Besitzer zu Versammlungs- und Kundgebungsorten bringen. Es sind Männer der Tat, sie sind wortkarg, aber ihren Händen gehorcht das, was ihren Worten Gewicht verleiht – ihre Arbeitsmittel: Traktoren und Planierraupen, Lastwagen und Anhänger. Vertreter aus Handwerk, Logistik und Baugewerbe haben sich dem Protest längst angeschlossen.
Aber nicht nur sie. Umfragen zeigen, dass mindestens 70 Prozent der Bürger mit den Protesten sympathisieren. Das Szenario, in dem die Bauernproteste eine massenhafte Widerstandsbewegung ins Rollen bringen können, ist durchaus real. Die aktivsten Unterstützer nehmen jetzt schon an den Kundgebungen teil oder säumen den Straßenrand.
Dank einer solchen Aktivistin haben wir heute die Möglichkeit, den Autokorso aus dem Inneren zu beobachten. Ihr Name ist Silke, sie ist Fachfrau für Steuern und wir kennen uns seit dem Sommer letzten Jahres. Sie stammt aus Mecklenburg-Vorpommern und lebt seit vielen Jahren am Berliner Ostrand. Wie sich auch herausstellte, war sie bereits vor unserem Kennenlernen langjährige Leserin unserer Webseite. Silke befestigt die deutsche Nationalfahne an der Hintertür ihres Alfa Romeo und wir machen uns auf den Weg.
Die Flagge signalisiert, dass wir auch als Pkw Teil des Konvois sind. "Wir können also innerhalb der Strecke manövrieren, überholen usw.", sagt sie. Sonst gibt es Bußgeld. "Außerdem ist die deutsche Flagge an sich schon eine Botschaft. Sie eint uns alle." Silke lächelt, heute ist sie glücklich. In Berlin steht sie an der Spitze der Initiative "Autokorso Berlin". "Wir unterstützen alle Bewegungen, die wie unsere von unten heraus organisiert sind."
Dezentralisierung ist ihr wichtig. Sie ist dafür, dass möglichst viele Menschen, Andersdenkende wie sie, sehen, dass sie nicht allein sind. "Ein- oder zweihundert Traktoren hier auf dem Land in der Nähe von Berlin sind viel sichtbarer als in Berlin, wo heute schon genug Fahrzeuge unterwegs sind", betont sie. "Solche Initiativen sind schon eine Botschaft für sich. Die Bürger wohnen nicht am Brandenburger Tor, es ist eine Touristenattraktion. Wir müssen aber die Bürger erreichen, dort, wo sie leben."
Und sie stehen, diese Bürger, am Rande der Straße, winken, hupen den Autos zu. Auch ein Junge, der mit dem Fahrrad zur Schule fährt, winkt. Als Antwort ertönt ein ohrenbetäubendes Hupkonzert. Später wird Silke mir sagen:
"Es war ein unglaublicher Tag. Ich habe noch nie so viel Unterstützung erlebt. Das Netz ist nun viel reißfester geworden. Wir stehen am Anfang von etwas ganz Großem."
"Politisch relevante Themen sind für uns wichtig", sagt sie über ihre Agenda. Bis 2022 war sie an Protesten gegen die Coronamaßnahmen und den Impfzwang beteiligt. Jetzt ist der Kampf für Frieden in den Mittelpunkt ihres Interesses gerückt. Für sie und ihre Mitstreiter äußert er sich in der Verweigerung von Waffenlieferungen an die Ukraine und generell in der Ablehnung der Unterstützung des Post-Maidan-Regimes in Kiew. Die mutigsten Vertreter dieser Bewegung fordern die lückenlose Aufklärung der Sprengung der Nord-Stream-Pipelines, den Abzug der US-Truppen aus Deutschland und die Freundschaft mit Russland. Silke ist eine von ihnen. Stolz zeigt sie mir die Anstecknadel, die sie am Revers ihres Mantels trägt. Sie zeigt eine Friedenstaube vor deutsch-russischer Trikolore.
Ich zweifle nicht daran, dass die einfachen Arbeiter hinter dem Steuer der schweren Maschinen um uns herum ähnlich denken. Diese Vermutung erweist sich mehrfach als richtig. Manche von ihnen tragen auch eine Friedenstraube an der Brust. "Unsere Außenministerin sagt, dass sie Russland ruinieren will. Und ich muss den Preis dafür bezahlen? Ich will Russland nicht ruinieren und ich will nicht dafür bezahlen", sagt ein Landwirt zwei Tage später im Protest-Lager an der Straße des 17. Juni gegenüber RT und zeigt eindrücklich auf das Friedenssymbol. Und warum steht er da? "Wir nehmen die Zerstörung unserer Wirtschaft nicht mehr hin. Das ist unser Land, ein schönes Land".
Aber zurück nach Brandenburg. In Bernau bei Berlin gelingt es mir zum ersten Mal mit mehreren Korsoteilnehmern ins Gespräch zu kommen. Hier warten sie auf unseren Konvoi, um sich ihm anzuschließen. Wir haben ihn über eine Umgehungsstraße überholt. Zu diesem Moment war der Korso schon 10 bis 12 Kilometer lang – nun habe ich maximal eine halbe Stunde Zeit, um meine Gesprächspartner zu finden.
Der Chef eines Gerüstbauunternehmens schaut von oben aus dem Fenster seines Lastwagens auf uns herab. Er sollte der einzige meiner Gesprächspartner an diesem Tag sein, der sich weigerte, vor der Kamera zu sprechen – er sei dazu nicht bereit, sagte er. Aber was war das für eine Absage! "Ja, ich kenne Ihre Nachrichtenseite." "Und ich kenne Sie auch", fügt er mild lächelnd hinzu. Wo könnte er mich gesehen haben? Dafür gab es wohl nur eine Möglichkeit – "Haben Sie meine Berichte aus dem Donbass gesehen?" – "Ja". Dieses "Ja" ist die beste Belohnung für einen Reporter. Nach dem RT-Rauswurf bei Youtube und all den weiteren Sperrungen! Das Eingeständnis macht die kurze Begegnung unvergesslich.
Die Firma dieses Mannes stellt Gerüste auf. Vor 10 oder 15 Jahren, als ich noch als Bühnenhelfer im NRW tätig war, hatte ich auch mal diesen Job gemacht – täglich acht Stunden anstrengender "Sport" im Gewichtheben. Nach einer solchen Arbeit ist es ein Zeichen von hoher Intelligenz, noch die Kräfte zu haben, nach russischen Medien in deutscher Sprache zu suchen.
Heute darf ich diese Art von Intelligenz besser kennenlernen. Den Verstand eines fleißigen, bodenständigen Mannes, auf dessen Schultern der deutsche Wohlstand bisher ruhte. Er kann rechnen, er ist praktisch und fair. Aber da sie selbst fair sind, verlangen die deutschen Arbeiter die gleiche Fairness auch von denen, die sie regieren.
Einer von ihnen, ein schon älterer Bauer, kennt alle Zahlen auswendig. Er ist silbergrau und faltig, sein windzerzaustes Gesicht ist mit Bartstoppeln bis zu den Augen bedeckt. Allein durch die neue Kfz-Steuer wird sein kleiner Betrieb 2.000 Euro im Jahr verlieren. "Da unser Hof ein Biobetrieb ist, müssen wir unsere Felder öfter befahren. Ich verstehe nicht, warum die Regierung das macht", beschwert er sich. Mit einer solchen Politik und wegen der Überschwemmung des europäischen Marktes mit ukrainischem Getreide, das zu Dumpingpreisen angeboten wird, werden die deutschen Landwirte den Wettbewerb mit anderen EU-Ländern verlieren, befürchtet er.
Mein nächster Gesprächspartner ist ein Kleinunternehmer im Baugewerbe. Er sagt, er schäme sich bereits, Rechnungen auszustellen. Denn wer sind ihre Empfänger – die einfachen Bürger oder andere Gewerbetreibende wie er. "Alles ist teurer geworden, so kann es nicht weitergehen." Er ist unerbittlich: "Die Ampel muss weg". Den gleichen Tonfall hören wir vom Chef eines Gartenbauunternehmens.
"Das ist eine Clownstruppe, keine Regierung", sagt er. "Sie sind nicht in der Lage, wirtschaftlich zu denken, außerdem sind sie nicht gebildet. Ihre Politik ist kurzsichtig. Alles, was sie können, ist, denjenigen, die arbeiten können und wollen, etwas wegzunehmen. Die Eigentums- und soziale Ungleichheit wird dadurch nur noch größer. Das muss aufhören. Und dazu muss die gesamte arbeitende Bevölkerung aufwachen." Er scheint noch nicht zu wissen, dass der Vizekanzler Robert Habeck in seiner 10-Minuten-Botschaft an diesem Tag die Demonstranten vor "Umsturzfantasien" im Namen der Errungenschaften der deutschen liberalen Demokratie gewarnt hat.
Aber jeder in diesem Land versteht Demokratie auf seine Weise. Bauern und Handwerker haben Habeck oder Scholz mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gewählt. Aber sie haben sie geduldet – im Namen der Demokratie. Diese Geduld geht nun zu Ende. "Diese Politik wird nicht in unserem Interesse betrieben. Wir arbeiten 365 Tage im Jahr bei Wind und Wetter. Und ich bin in einem Alter, in dem ich meinen Hof an meine Kinder weitergeben möchte. Ich möchte, dass sie eine Zukunft haben", erklärt mir ein weiterer Bauer von der Höhe seines Traktors aus. Wir unterbrechen das Gespräch, denn in diesem Moment setzt sich der Konvoi in Bewegung.
Haben die Demonstranten eine Chance, ihr Ziel zu erreichen, nämlich sofortige Absetzung der Ampel-Regierung? Theoretisch, ja. Aber das Verfahren für vorgezogene Neuwahlen ist hierzulande kompliziert und wurde, anders als zum Beispiel in südeuropäischen Ländern, in der Geschichte nur wenige Male angewandt – und noch nie durch den Willen der Bevölkerung. Sollte es doch zu Neuwahlen kommen, wird die CDU/CSU, die im Allgemeinen mit den ursprünglichen Forderungen der Bauern sympathisiert, wahrscheinlich gewinnen. Aber dann werden nur die Gesichter gewechselt, nicht die Politik als Ganzes.
Längst hat sich in Deutschland eine Klasse von Parteifunktionären herausgebildet, die zwar verschiedenen Parteien angehört, aber sozial und politisch so homogen ist, dass man längst von der Existenz zweier Klassen sprechen kann – der (Mehr)Parteien-Nomenklatura und allen anderen. Daher werden Neuwahlen das Problem der Bauern und all ihrer Sympathisanten wohl kaum lösen. Die angebliche Buntheit des deutschen Parteisystems wird sich spätestens dann als Trugschluss erweisen.
Was die Probleme der Bauern und dieses Landes lösen wird, wird sich erst mit der Zeit zeigen, und es scheint, dass dieses Land in nicht allzu ferner Zukunft viele Überraschungen erleben wird. Die ersten Protesttage haben eindrücklich gezeigt, dass die ohnehin schon lange bröckelnde Allianz der Regierenden mit dem Wählervolk endgültig gebrochen ist. Die Bewohner der Berliner Elfenbeintürme, die auf Protestler wie Blogger mit Stand-ups einreden, werden endgültig der Lächerlichkeit preisgegeben. Nicht mal gehasst werden sie, sie werden verachtet, so stark wie wahrscheinlich noch niemand zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik. Und das ist für sie erst recht kein gutes Zeichen.
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