In der sogenannten Cum-Ex-Affäre wurde der deutsche Staat um mehr als zehn Milliarden Euro betrogen. Die Masche dahinter: Aktienhändler, Anwälte, Banken und Finanzinstitute wickelten Geschäfte ab, mit dem Ziel, eine nur einmalig bezahlte Steuer mehrfach erstattet zu bekommen. Der Skandal gilt als größter Steuerbetrug Europas.
Mithilfe von Absprachen zwischen mehreren Finanzakteuren wurden Aktien zwischen diesen so oft hin und her gehandelt, dass das Finanzamt am Ende nicht mehr wusste, wer am Tag der Dividendenzahlung Aktionär des Unternehmens war.
Das Resultat: Die auf solche Zahlungen fällige Kapitalertragsteuer von 25 Prozent wird Finanzinstituten unter Umständen erstattet. Somit stellten die Behörden mehr Steuererstattungsbescheide aus als eigentlich rechtens.
Hinter der Affäre steckt die Hamburger Privatbank M. M. Warburg. Sie verursachte durch Cum-Ex-Geschäfte über 100 Millionen Euro Steuerschaden. Die Finanzbehörden in Hamburg hatten Ende 2016 Forderungen für eine Steuernachzahlung in Höhe von 47 Millionen Euro gegen die Warburg-Bank einfach auslaufen lassen.
Die "Erinnerungslücken" des Herrn Scholz
Der damalige Bürgermeister der Hansestadt war der heutige Bundeskanzler: Olaf Scholz. Laut dem, was bisher bekannt ist, soll der damals einflussreiche Hamburger SPD-Politiker Johannes Kahrs ein erstes Gespräch zwischen Warburg-Bank-Chef Christian Olearius und Scholz vermittelt haben. Anschließend sollen noch zwei weitere Treffen im Rathaus erfolgt sein.
Doch schon damals wurde gegen Olearius wegen schwerer Steuerhinterziehung ermittelt. Scholz gab an, sich an die Treffen nicht mehr erinnern zu können. Olearius hatte allerdings Tagebuch geführt. Scholz wird im Zusammenhang mit der Affäre vorgeworfen, Einfluss auf die Finanzverwaltung genommen zu haben, indem er Olearius riet, sein Schreiben direkt an den damaligen Hamburger Finanzsenator Peter Tschentscher (SPD) zu richten.
Seit mehr als drei Jahren wird im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss der Hamburgischen Bürgerschaft der Frage nachgegangen, warum der Senat und die Steuerverwaltung die Steuerrückzahlungen rund um die Cum-Ex-Geschäfte haben verjähren lassen. Fabio De Masi, der ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linken, kennt sich mit der Affäre bestens aus. Seit Jahren recherchiert und publiziert er dazu. In einem Interview mit der Münchner Abendzeitung vom Freitag erhebt er erneut schwere Vorwürfe gegen Scholz.
Nach den Gesetzen der Logik nicht möglich
De Masi zu der Frage der Abendzeitung, warum er Scholz wegen Falschaussage in der Cum-Ex-Affäre um die Hamburger Warburg-Bank angezeigt hat:
"Es geht dabei um Treffen von Olaf Scholz mit Hamburger Cum-Ex-Bankiers, die dazu führten, dass Hamburg auf die Einziehung von etlichen Millionen krimineller Cum-Ex-Tatbeute verzichtete. Zunächst wurde nur ein Treffen bekannt, obwohl der Hamburger Senat ein solches zuvor abgestritten hatte. Herr Scholz hat weitere Treffen auf meine Nachfrage im Bundestag zunächst nicht eingeräumt."
Erst nachdem Journalisten auch für weitere Treffen Beweise geliefert hatten, behauptete Scholz laut De Masi "plötzlich", dass er "Erinnerungslücken" habe. Dabei hatte laut dem ehemaligen Linken-Abgeordneten der Sprecher von Scholz beim ersten Treffen, das bekannt wurde, noch verkünden lassen, dass er das Treffen bestätigen könne. Dies gehe aus dem Kalender von Scholz hervor.
Allerdings soll Scholz den häufigen Austausch mit dem Bankier, gegen den damals bereits ermittelt wurde, verschwiegen haben. Dann, so De Masi weiter, kam im Hamburger Untersuchungsausschuss heraus, dass dieses eine Treffen gar nicht in Scholz' Kalender stand. Das habe er damit begründet, dass sein Kalender, als er als Finanzminister von Hamburg nach Berlin ging, nicht richtig überspielt worden sei.
Zu den Widersprüchen meinte der ehemalige Linken-Politiker:
"Das ist von daher bemerkenswert, weil er damit ein Treffen bestätigt hat, über das er gar keine Aufzeichnung mehr hatte. Nach den Gesetzen der Logik geht das eigentlich nur, wenn ich mich daran erinnere. Damit hätte er bezüglich der Erinnerungslücken vor dem Untersuchungsausschuss gelogen."
De Masi zu der Frage der Abendzeitung, warum die Staatsanwaltschaft Hamburg seine Anzeige vor Kurzem abgewiesen habe:
"Die Hamburger Staatsanwaltschaft hat in der Cum-Ex-Affäre fast nie den Finger gerührt. Wir haben in Deutschland keine politisch unabhängigen Staatsanwaltschaften, wie auch der Deutsche Richterbund beklagt."
"Scholz kann sich nach 40 Jahren noch erinnern, wo er das letzte Mal im Freibad war"
Die Hamburger Staatsanwaltschaft, so De Masi, argumentiere, dass Scholz "nicht zwingend gelogen habe, sondern vielleicht sein Regierungssprecher den Kalendereintrag einfach nur erfunden habe, um ein geordnetes Haus vorzutäuschen, und Scholz im Bundestag die zeitweilige Erinnerung an eines der Treffen ebenfalls nur vorgetäuscht habe."
Laut De Masi argumentiere die Hamburger Justiz demnach, "dass es nicht strafbar sei, wenn der Regierungssprecher die Öffentlichkeit belüge oder Olaf Scholz den Bundestag. Denn beides sei ja nicht in einem Untersuchungsausschuss erfolgt."
Der ehemalige Linken-Politiker weiter:
"Statt sich wilde Theorien zu überlegen, warum Scholz nicht gelogen haben könnte, sollte die Staatsanwaltschaft Herrn Scholz und seinen Regierungssprecher zu diesen offensichtlichen Widersprüchen befragen. Das will sie offenbar nicht."
Zu den "Erinnerungslücken" von Scholz sagte De Masi gegenüber der Abendzeitung:
"Scholz kann sich nach 40 Jahren noch erinnern, wo er das letzte Mal im Freibad war, und er erinnert alle möglichen zufälligen Begegnungen mit Herrn Olearius. Aber an Treffen, bei denen es um Millionenbeträge und kriminelle Geschäfte der Bank ging, hat er präzise Erinnerungslücken."
Und weiter:
"Er weiß andererseits immer ganz genau, dass er in diesen Treffen zurückhaltend war und keinen Einfluss genommen hat, obwohl er sich doch angeblich gar nicht an die Treffen erinnern kann. Ein Neurologe hat einmal gesagt, eine solche präzise Erinnerungslücke sei ihm aus der Hirnforschung nicht bekannt."
Auf die Frage der Abendzeitung, welche Konsequenzen Scholz drohen, sollte ihm eine Falschaussage nachgewiesen werden, antwortete De Masi:
"Eine uneidliche Falschaussage im Untersuchungsausschuss ist strafbar wie vor Gericht. Man kann dafür ins Gefängnis kommen. Erinnerungslücken werden immer dann von Politikern bemüht, wenn sie versuchen, nicht aktiv zu lügen – also nicht klar mit 'ja' oder 'nein' zu antworten."
Es gebe dem ehemaligen Linken-Politiker zufolge eine dichte Indizienkette, "dass Einfluss auf das Steuerverfahren genommen wurde. Und es gibt dafür aus meiner Sicht einen Nachweis. Und zwar deshalb, weil Olaf Scholz sich damals ein Protestschreiben von der Warburg-Bank hat geben lassen, ein paar Tage später den Cum-Ex-Bankier angerufen und ihn aufgefordert hat, dieses an den Finanzsenator zu geben."
Der Finanzsenator habe dann "mit seiner grünen Tinte, die nur für Senatoren und Minister vorbehalten ist, die wichtigsten Argumente der Warburg-Bank unterstrichen und dieses Schreiben in die Finanzverwaltung gegeben."
De Masi weiter dazu:
"Dass dieses Schreiben mit den Unterstreichungen eines Politikers nochmal in der Finanzverwaltung landet, ist aus meiner Sicht bereits eine Einflussnahme."
Scholz habe das Schreiben "ja nicht selbst in die Finanzverwaltung gegeben, das könnte man ja als Einflussnahme interpretieren. Damit hat er im Kern gesagt: Das, was mein Finanzsenator gemacht hat, war Einflussnahme."
Und dann noch der Laptop mit 700.000 Mails
De Masi äußert sich in dem Interview mit der Abendzeitung auch zu dem Vorfall um die vorübergehende Entwendung von zwei Laptops mit 700.000 Mails, darunter auch zahlreiche von Scholz:
"Diese Laptops lagen in einem Geheimschutzraum in einem Tresor. Der wurde dann von einem Mitarbeiter des Arbeitsstabes, der von der SPD ist, auf Anweisung des Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses, der auch wiederum SPD-Mitglied ist, aus dem Tresor geholt. Und zwar mit der Begründung, dass dort eben auch Daten drauf seien, die nichts mit Cum-Ex zu tun hätten."
De Masi erläutert in dem Interview, dass er nicht glaube, dass Daten auf dem Laptop gelöscht wurden. Denn, so der ehemalige Linken-Politiker:
"Dafür müssten sie erstmal wissen, wo in den 700.000 Mails die Leichen begraben sind. Das ist gar nicht so einfach, das weiß ich als ehemaliges Mitglied des Wirecard-Untersuchungsausschusses."
Auf die Frage, ob der "Fall jemals aufgelöst werden kann", antwortete De Masi:
"Es ist wie beim Tatort: Wir haben eine blutige Leiche mit ganz vielen Fingerabdrücken von Olaf Scholz. Das Einzige, was wir nicht haben, ist eine Kamera, die aufzeichnete, wie er sich am Tatort zu schaffen macht."
Laut De Masi hätte Scholz mit seinen Aussagen "schon massive Probleme bekommen." Ein "harter Richter oder eine harte Richterin würde ihm Erinnerungslücken nicht durchgehen lassen", so der Politiker weiter. Er hoffe, dass Scholz noch im Prozess gegen Herrn Olearius aussagen müsse.
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