Quer durch das Bundesgebiet finden dieser Tage pro-palästinensische Demonstrationen statt oder werden verboten. In Frankfurt beispielsweise wurde am Samstag ein ursprünglich von der Stadt ausgesprochenes Verbot einer angemeldeten Demonstration von der zweiten Instanz der Verwaltungsgerichtsbarkeit wieder bestätigt, nachdem die erste Instanz das Verbot aufgehoben hatte. In Berlin, München und Kassel gab es Verbote; in München fand trotzdem eine Demonstration statt und blieb friedlich. In Köln, Düsseldorf und Siegen gab es keine Verbote, wobei die Düsseldorfer Demonstration, die mit 50 Teilnehmern angemeldet war, mit 700 Teilnehmern stattfand.
In Berlin hatte die Polizei bereits unter der Woche insgesamt 132 Teilnehmer von Kundgebungen für Palästina festgenommen. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter hatte am Donnerstag erklärt, er wolle künftig alle pro-palästinensischen Kundgebungen untersagen. Die Berliner Schulbehörde hat sogar das Tragen der sogenannten Palästinensertücher (die allerdings auch in anderen arabischen Staaten getragen werden) untersagt.
Begründet werden die Verbote mit drohenden antisemitischen Äußerungen oder möglicher "Billigung von Straftaten". Dabei zitiert der Bayerische Rundfunk eine Teilnehmerin der verbotenen Münchner Demonstration vom Freitag mit der Aussage, sie wolle ihre Solidarität zeigen und wolle, dass das Zusammenleben im Nahen Osten gemeinsam funktioniere. Von der Düsseldorfer Demonstration am Samstag wird von Transparenten berichtet, auf denen Losungen standen wie "Menschenrechte stehen allen Menschen zu... Save Gaza".
Auch aus Siegen, wo am Freitag eine Demonstration mit zweihundert Teilnehmern stattfand, wurden keine Losungen oder Reden berichtet, die tatsächlich etwa den Angriff der Hamas begrüßt hätten. "Zu Beginn wurde von der Polizei eine einzelne Fahne sichergestellt, die als unzulässig eingestuft wurde." Weiter berichtet die örtliche Presse, Falschdarstellungen in westlichen Medien seien kritisiert worden – was unmittelbar nach der selbst von US-Präsident Joe Biden aufgegriffenen Falschmeldung von angeblich durch Palästinenser enthaupteten Babys kein Wunder ist – und es wurden Parolen wie "Netanjahu Kindermörder" gerufen, aber selbst der dortige Reporter konnte keine Belege dafür finden, dass terroristische Handlungen befürwortet wurden.
Dennoch kann sein Artikel als Musterbeispiel für den Umgang mit diesen Demonstrationen durch die deutsche Presse gesehen werden. Der Autor befasst sich vor allem mit der Frage, ob derartige Demonstrationen nicht doch irgendwie verboten werden können. Äquivalente Fragen, wie sich die vielfach zeitgleich stattfindenden Pro-Israel-Demonstrationen zu den Aussagen des israelischen Verteidigungsministers und zur Blockade und Bombardierung des Gazastreifens verhalten, werden nicht gestellt, obwohl die völkerrechtliche Bewertung in beiden Fällen eindeutig ist.
Der Staatsrechtler Clemens Arzt, Professor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin, hatte in einem Interview in der Welt die Stellung des Versammlungsrechts hervorgehoben. Eine Staatsräson begründe kein Demonstrationsverbot.
"Eine Versammlung kann nur beschränkt oder verboten werden, wenn die öffentliche Sicherheit unmittelbar gefährdet ist. Dabei gibt es zwei Grenzen: Man muss sich friedlich und ohne Waffen versammeln. Jede noch so aggressive oder auch politisch unerträgliche Parole kommt aber nach Rechtsprechung bis hin zum Bundesverfassungsgericht nicht über diese Schwelle. Mit Worten kann man nicht unfriedlich sein, dass ist klare Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts."
In der Praxis wirkt sich die Ausweitung von Meinungsdelikten wie des § 140 StGB, der mit der Absicht verschärft wurde, abweichende Meinungen zum Ukraine-Konflikt strafrechtlich verfolgen zu können, unmittelbar auf das Demonstrationsrecht aus, denn genau die Gefahr solcher Straftaten wurde beispielsweise in der Begründung des Frankfurter Demonstrationsverbots herangezogen. Auch die Festnahme der Anmelderin dieser Demonstration wurde damit begründet, sie habe "bei einem live gestreamten Pressestatement die Massaker der Hamas am vergangenen Wochenende geleugnet und verharmlost" - ohne übrigens zu erklären, wie beides gleichzeitig möglich sein soll. Noch vor wenigen Jahren wäre ein derartiges Vorgehen unvorstellbar gewesen. Wo dabei das Problem liegt, erläutert Clemens Arzt:
"Wenn die Grenze zur Strafbarkeit überschritten wird, kann die Polizei nach dem Versammlungsrecht einschreiten. Wenn das Recht benutzt wird, die Staatsräson zu bedienen, wird es schwierig.
Versammlungsfreiheit bedeutet Staatsferne. Das ist ein Recht der Minderheit. Das stellt das Bundesverfassungsgericht immer sehr eindeutig heraus. Das Wort ist frei bis zur Grenze des Strafrechts, sonst kommen wir hinein ins Verbot von politischen Meinungen. Das müssen wir in einer Demokratie aushalten."
In Frankfurt versammelten sich letztlich trotz des Verbots in letzter Minute etwa 600 Menschen. "Israel bombardiert, Deutschland finanziert" lautet die eine Losung, die berichtet wird. Letztlich völlig legitime Kritik an der Politik Israels und der Bundesregierung.
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