Vorbei die Tage, als der Vorstandschef der Deutschen Bank den Rest der Welt über die Geheimnisse des deutschen Wirtschaftsmodells belehren konnte: Statt über brillante Ingenieure, eine unaufhaltsame Exportmaschine und Konsens zwischen Unternehmen und Gewerkschaften zu reden wie sonst immer, habe Christian Sewing in seiner dieswöchigen Rede in Frankfurt von Strukturproblemen gesprochen. Versage Deutschland bei deren Ausräumung, werde es "der kranke Mann Europas" werden. Die richtigen Probleme jedoch, mahnt Matthew Lynn, habe Sewing nicht einmal genannt – und auch das beschreibt Lynn für den Telegraph als einen Teil der Probleme. Mechanismen der Entscheidungsfindung, die in der deutschen politischen Kultur angelegt sind, führten, so Lynn, zu falschen Entscheidungen:
Etwa zum Verzicht auf die Atomkraft und billige Energieträger aus Russland oder auch zum Export von Ingenieurdienstleistungen nach China. Heute müssen Industriebetriebe, wirtschaftlicher Energiequellen beraubt, schließen – und das Expertenwissen der deutschen Ingenieure habe China eingesetzt, um seine eigene Automobilindustrie in Konkurrenz zur deutschen aus dem Boden zu stampfen. Vorteile des im Vergleich zur Deutschen Mark wesentlich schwächeren, somit also exportfördernden Euro wurden längst ausgeschöpft.
Weitere Fehlentscheidungen seien bei der Digitalisierungspolitik getroffen worden, die somit versagt habe, und bei der Modernisierung der Infrastruktur Deutschlands.
Selbst nach den bodenlos niedrigen Standards der europäischen Nachbarn – und hier schließt der Finanzjournalist auch seine Heimat Großbritannien ein – sei "Deutschland unfähig zur Reform". Während etwa Italien bestimmte wichtige Reformen begonnen und Frankreich bereits erfolgreich umgesetzt hätten, könne die Ampelkoalition über nahezu gar nichts zur Übereinkunft gelangen. Deutschland sei paralysiert.
Lynn macht Deutschlands Hauptproblem, das alles Obige verursache, im politischen System aus: Koalitions- und konsensbasiert, wie es ist, könne es die Durchsetzung radikaler Veränderungen und Modernisierungsbestrebungen, die das Land brauche, schlicht nicht einleiten.
Auswege für Deutschland sieht Matthew Lynn in einer radikalen Generalüberholung des politischen Systems. Nicht zuletzt müsse Deutschland auch den selbstgefälligen, schöngeistigen Zentrismus zerschlagen, der seine Debattenkultur dominiere.
Beides, so stellt der Journalist nüchtern fest, sei allerdings nicht einmal am Horizont zu sehen.
"Arrogantes Deutschland kann sich nicht selber retten."
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