Gauck überrascht zum Thema Asyl: "Begrenzungsstrategie nicht verwerflich, politisch sogar geboten"

Die täglichen Chaos-Bilder von der Mittelmeer-Insel Lampedusa verunsichern die Bürger. Das Bundesinnenministerium revidierte am Wochenende nun doch die Entscheidung, Migranten aus Italien aufzunehmen. Ex-Bundespräsident Gauck darf parallel dazu via ZDF eine radikale Wende in der deutschen Asyl-Politik fordern.

Joachim Gauck gab dem ZDF im Format "Berlin-direkt" ein Interview. Dass dabei zum heiklen Thema Asylpolitik ein Ex-Bundespräsident und zudem parteiloser Ex-Politiker vor die Kamera trat, könnte symptomatisch für die Verunsicherung der Bundesregierung sein und damit als rein strategisch gelten. Das stetig wachsende Unverständnis in der Bevölkerung zum Sorgenthema Migration, bedingt auch durch die annähernd täglichen Medienmeldungen diesbezüglich vielfältiger, dabei meist negativer Ereignisse in Deutschland, veranlasst demnach zu einem medial-politisch begleiteten Umdenken in Berlin. Gauck darf daher als "Stimme der Vernunft" unmissverständlich fordern:

"Die Politik muss neue Möglichkeiten wagen. Und auch entdecken, dass die bisherigen Maßnahmen nicht ausgereicht haben, um den Kontrollverlust, der offensichtlich eingetreten ist, zu beheben."

Die stetig steigenden Umfragewerte der AfD, die damit drohenden Machtverluste der etablierten Parteien in diversen Landesregierungen bei kommenden Wahlen, scheint zudem in Berlin als bedenkliche Realität angekommen zu sein. So mahnt Gauck wahrnehmend an, dass durch "den Migrationsdruck in verschiedenen Ländern, mit einer Zuwanderung in einem Maß wie 2015", in der Bevölkerung der Eindruck entstehe, dass "die Politik ihre Ängste sowie ihr Bedürfnis nach Überschaubarkeit und Sicherheit nicht verstehe". Dies "könne zu einem weiteren Rechtsruck führen", so der Ex-Bundespräsident. Im Jahr 2015, bei ähnlichen Wahrnehmungen in der Bevölkerung, erkannte Gauck im Land "eine helle und eine dunkle Seite", zum Thema Engagement für Flüchtlinge versus Äußerungen von Bedenken. Gauck damals wörtlich:

"Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland."

Im Jahr 2023 schlägt Gauck nun andere Töne an:

"Wir brauchen eine neue Entschlossenheit, die in der Bevölkerung, den Eindruck vermittelt, die Regierenden sind handlungswillig und handlungsfähig und dazu bedarf es offenkundig auch der Debatte neuer Wege."

Diese Formulierungen erfolgten im Zusammenspiel mit "Berlin direkt"-Moderator Theo Koll, der Gauck fragte, ob dieser aktuell die "Demokratie in Deutschland in einer Phase überforderter Verunsicherung" sehe und man daher "auch beim Thema Migration bisher undenkbares denken" müsse. Dies beantwortete Gauck schlicht mit "Ja", um zu begründen:

"Wenn wir auf Stimmen hören wie die sozialdemokratischen Bürgermeister in Krefeld, in Gladbeck, in Herne, also die Verantwortlichen im Städte- und Gemeindetag – die beschreiben eine Situation wie 2015. Wir sind an einer Grenze unserer Leistungsfähigkeit angekommen und jetzt besteht die Gefahr, dass die wunderbare Solidarität der Bevölkerung, die es bisher gab, (…) schwindet."

Gauck erklärte den ZDF-Zuschauern, dass "die Menschen Angst hätten", dass sich zudem in ihrem Leben "unzumutbar viel verändert" habe. Gauck formulierte seine jüngsten Wahrnehmungen, im bis dato eher bekannten Duktus von regelmäßigen AfD-Forderungen, mit der Erklärung:

"Daher bin ich dazu gekommen, dass es vielleicht auch moralisch überhaupt nicht verwerflich ist und politisch sogar geboten ist, eine Begrenzungsstrategie zu fahren, die zunächst wirkt wie eine Einschränkung der Rechte von Menschen, die zu uns kommen wollen."

Eine weitere Äußerung, die als formulierte AfD-Wahrnehmung umgehend scharf kritisiert werden würde, lautete dann im Interview:

"Wir brauchen Zuwanderung, aber wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme, ohne dass die Fachkräfte, die wir brauchen, vorhanden sind."

Empathisch beratend erläuterte der ehemalige Theologe und Pastor dann weiter, dass die Politik erkannte Notwendigkeiten eindeutiger formulieren müsse, zum Thema "was möglich ist und über das, was notwendig ist und dann darf sie ruhig das auch mal ein Dilemma nennen". Dafür sei jedoch das Gespräch "in der Mitte der Gesellschaft" notwendig und "nicht nur am rechten Rand". Gauck erklärt als strategisches Ziel:

"Dann wächst wieder das Vertrauen, dass da oben Leute sind, die etwas vorhaben, was die komplexe Situation zum Guten verändert und deshalb plädiere ich für einen gewissen Mut. Für eine Politik, die berücksichtigt, dass das Wünschbare nicht immer umsetzbar ist, wenn man die demokratischen Mehrheiten erhalten will."

Gauck mahnt dabei final an:

"Wenn die Bevölkerung den Eindruck hat, die Regierenden verstehen nicht, dass wir das Bedürfnis haben nach Überschaubarkeit und Sicherheit, dann wird es zu einem weiteren Rechtsruck kommen."

Der Deutschlandfunk fasst zusammen, dass "die verschiedenen politischen Kräfte von ihren Wunschvorstellungen Abstand nehmen müssten und in der demokratischen Mitte das entwickeln, was Deutschland wirklich wolle". Bereits am Samstag meldete die ARD-Tagesschau, dass nach Mitteilung aus dem Bundesministerium von Nancy Faeser vorerst nun doch keine Migranten aus Italien aufgenommen werden sollen, konträr vorheriger Aussagen der Ministerin. Das Bundesinnenministerium stellte nun klar, dass "der freiwillige EU-Solidaritätsmechanismus zur Übernahme von Geflüchteten ausgesetzt bleibe". Demgegenüber hat sich Faeser wohl dafür ausgesprochen, "die EU-Außengrenzen im Mittelmeer stärker zu kontrollieren". 

Anders "werde man die Migrationslage nicht in den Griff bekommen", so die SPD-Politikerin in der ARD mitteilend.

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