Von Tom J. Wellbrock
Der erste Satz eines Artikels in der Frankfurter Rundschau lautet:
"Der Wolf kennt keine Grenzen."
Und der ist schon falsch. Denn tatsächlich kennt der Wolf sehr wohl Grenzen, man muss sie ihm nur zeigen. Oder besser: Ein Herdenschutzhund muss sie ihm zeigen.
Abknallen oder nicht?
In Stellung gegangen sind: Wolfsschützer versus Weidetierschützer. So mutet es an. Und wenn man ehrlich ist, sind die Argumente der Wolfsschützer meist wenig überzeugend, insbesondere, wenn man Schafe oder Ziegen hält. Das Wunder der Wolfspopulation mag den Liebhaber des Raubtiers in Entzückung versetzen. Der Schäfer dagegen sieht eher seine ausgeweideten Tiere, und es kann kaum verwundern, dass ihm das nicht gefällt.
Der Wolf reißt ausschließlich, was er für seine Ernährung benötigt. Anders als Hunde, die Freude an der Jagd an sich haben können, jagen Wölfe ausschließlich gegen Hunger. Liegen also mehrere Weidetiere nur "angeknabbert" am Boden, war es eher ein Hunde-, liegen nur noch Reste da, ein Wolfsrudel.
Abseits der Romantik steht also immer wieder die Frage im Raum, ob man Wölfe abschießen sollte oder nicht. Sie wird wenig pragmatisch geführt, denn beide Seiten konfrontieren sich mit Argumenten, denen die jeweils andere Seite gar nicht zugänglich sein kann – einfach, weil die Interessenlagen nicht unter einen (Schäfer)hut zu bringen sind.
Der Deutschlandfunk stellt die Frage nach der Gefährlichkeit von Wölfen und schreibt:
"Weltweit gab es in den vergangenen 20 Jahren knapp 500 Wolfsangriffe auf Menschen, davon 26 tödliche, der größte Teil allerdings in Zusammenhang mit Tollwut. In Deutschland kam es zu keinen Angriffen auf Menschen. Laut Bundesumweltministerium gab es in der Vergangenheit nur wenige Fälle, in denen gesunde Wölfe einen Menschen angegriffen oder gar getötet haben. Wolfsangriffe auf Menschen lassen sich demnach vor allem auf drei Ursachen zurückführen: Tollwut, Provokation und 'Futterkonditionierung'."
So gesehen kann man den Menschen schon mal aus der "Schusslinie" nehmen, er ist nicht gerade die erste Wahl beim Dinner des Wolfes. Anders sieht das bei Schafen, Ziegen und weiteren Tieren aus. Pferde zum Beispiel greifen Wölfe äußerst selten an, weil sie zu groß sind. Die erste Regel des Wolfes lautet nämlich: unverletzt bleiben. Ein verletzter Wolf ist ein schwacher Wolf, und das Raubtier weiß das ganz genau. Daher meidet der Wolf auch die direkte Konfrontation mit anderen Tieren, die womöglich stärker als er sein oder ihm auch nur Schaden zufügen könnten.
Die Weidetierhaltung hängt daher mit den Aktivitäten von Wölfen direkt zusammen. Von einem Schaf, einem Frischling oder Kalb geht aus der Wahrnehmung des Wolfes keine Gefahr aus, dafür aber die Vorstellung auf eine köstliche Mahlzeit. Objektiv gesehen überrascht es daher nicht, wenn es die Forderung nach dem Abschuss von Wölfen gibt.
Eine Lösung könnte die Aufnahme des Wolfes in das Jagdrecht sein, so die Befürworter dieser Variante. Jäger schießen nicht wild um sich, sondern könnten professionell dazu beitragen, dass die Wolfspopulation nicht zu groß wird und Weidetiere besser geschützt werden können. Doch selbst die Hardliner gehen mit, wenn dem entgegengehalten wird, dass der Abschuss die letzte Möglichkeit sein sollte, die man in Betracht zieht. Wie aber sehen die anderen Optionen aus?
Wie der Wolf lernt
Junge Wölfe orientieren sich an den älteren Tieren, sie lernen von ihnen, wie das optimale Verhalten aussieht. Nun könnte man einwenden, dass das ein guter Ansatz sei. Wenn der Weidetiere reißende erwachsene Wolf abgeschossen wird, kommt das Jungtier nicht auf "dumme Gedanken". Aber auf diese Weise lernt es eben auch nicht, dass es nicht erwünscht ist, Schafe oder Ziegen zu reißen ‒ das Vorbild, das dieses Verhalten vorlebt, wurde ja abgeschossen.
Besser wäre also die Herangehensweise, die den älteren Tieren das Jagen in bestimmten Gebieten so wenig schmackhaft macht, dass sie von der Jagd auf Weidetiere absehen. Hier wird der Einsatz von Zäunen oft diskutiert. Doch das kann auch nach hinten losgehen. Der Wolf ist ein lernbegieriges Tier, das versucht, Hindernisse zu überwinden. So besteht die Möglichkeit, dass ein Wolf über einen Zaun springt oder klettert. Hat das einmal funktioniert, bemerken und registrieren das auch andere Wölfe.
Es geht aber auch unter dem Zaun durch. Graben stellt für Wölfe keine große Herausforderung dar und macht den Weg zu den Objekten der Begierde schnell frei. Am liebsten hat es der Wolf aber, wenn der Zaun defekt ist oder bereits Löcher und Lücken aufweist. In diesen Fällen muss er gewissermaßen einfach die "Türklinke drücken".
Elektrozäune funktionieren noch am besten, doch wenn es Pannen bei der Stromversorgung gibt (und in Deutschland ist das sehr wahrscheinlich, kleiner Scherz), ist der Zaun kein geeignetes Hindernis mehr. Wer also argumentiert, dass die Zaunlösung ‒ im wahrsten Sinne des Wortes ‒ Lücken hat, liegt durchaus nicht falsch.
Also doch abschießen?
"Bootsmann" ist ein Herdenschutzhund der Rasse Pyrenäenberghund. Seit er das Licht der Welt erblickte, lebte er mit Schafen und Lämmern in einem Stall. Von Beginn seines Lebens an waren diese Tiere ein Teil seines Rudels, bei seinen ersten Erkundungstouren stieß er immer wieder auf sie und nahm sie als selbstverständlichen Teil seiner Familie auf.
Bevor Bootsmann in der Lage war, die Welt sehenden Auges wahrzunehmen, roch er die anderen Tiere im Stall. Man gewöhnte sich aneinander, die Weidetiere stupsten Bootsmann hin und wieder, aus dem gemeinsamen Spiel wurde ein enges Verwandtschaftsverhältnis. Für den Hund galt es von nun an, auf seine Verwandten aufzupassen, und zwar ein Leben lang.
Bootsmann ist ausgedacht, aber es gibt ihn überall, und sein Job ist genau das: aufpassen, dass den Weidetieren nichts passiert. Aus dem Stall wird später die Weide, das Revier, auf das der Herdenschutzhund niemanden drauflässt, seien es andere Hunde, Menschen oder eben Wölfe.
Der Hund muss zunächst lernen, dass er einen Bezugsmenschen hat, das ist der Schäfer. Auch er ist Teil des Rudels und somit akzeptiert und schützenswert. Meist gibt es in einer Herde mehrere Schutzhunde, jeder hat seine ganz spezielle Aufgabe. Da die Hunde bereits im Stall auf ihre schützenswerten Objekte fokussiert werden, ist die weitere Ausbildung übersichtlich und kostet nur wenige Tausend Euro.
Der Wolf und der Hund
Für den Hund spielt es keine Rolle, wer in sein Revier eindringt, er wird dieses verteidigen und seine "Familie" schützen. Für den Wolf ist das keine gute Aussicht, da er ‒ wie oben berichtet ‒ ohnehin dem Kampf lieber aus dem Weg geht. Wölfe können täglich bis zu 40 Kilometer Strecke zurücklegen, dafür müssen sie fit, also gesund und unverletzt, sein. Die Konfrontation mit einem Herdenschutzhund zählt daher nicht zu ihren favorisierten Aktivitäten. Das lernen auch die Jungtiere schnell und müssen daher im besten Fall nicht einmal vom Zaun ferngehalten werden. Sie fassen aufgrund ihrer Lernkurve nicht einmal den Plan, dorthin zu gehen.
Für den Wolf wie auch den Hund muss der Schutzzaun ein Tabu darstellen. Im Training muss der Hund also lernen, dass er auf seiner Seite des Zauns bleibt. Der Wolf wird recht schnell verstehen, dass das auch für ihn gilt, wartet doch auf der anderen Seite jemand, der ihm das Leben verdammt schwer machen kann.
Herdenschutzhunde eignen sich übrigens nicht nur für eingezäunte Weiden, sie werden auch von Schäfern genutzt, die mit ihren Herden von Weide zu Weide oder Moor zu Moor ziehen. Tatsächlich kann also ein Herdenschutzhund sogar als Zaunersatz auftreten, wenn er gut trainiert wurde.
Wie beim Wolf lernen auch die jungen Herdenschutzhunde von den älteren Tieren. Sie erleben die "alten Hasen" gegenüber den Schutzbefohlenen als gelassen und fast desinteressiert, für die Weidetiere geht also keine Gefahr von ihnen aus. Wenn ein junger Hund dieses Verhalten übernommen hat, ist er auf dem besten Weg, selbst ein gewissenhafter und verantwortungsvoller Bewacher für seine Herde zu werden.
Und: Herdenschutzhunde neigen nicht dazu, ein Gewehr anzulegen, um auf Wölfe zu schießen. Aufgrund ihrer einzigartigen Eigenschaften haben sie derlei primitives Verhalten schlicht nicht nötig.
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Sprecher, Texter, Podcaster, Moderator und Mitherausgeber des Blogs neulandrebellen.
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