Der Spitzenkandidat der Freien Wähler in Bayern und stellvertretende bayerische Ministerpräsident Hubert Aiwanger steht 40 Tage vor der anstehenden Landtagswahl im Mittelpunkt eines Skandals, der die Wahlaussichten der Partei und die Perspektiven der Fortsetzung der Regierungskoalition in München gefährdet.
Hintergrund ist ein angeblicher Vorfall, der sich vor 35 Jahren am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg ereignet haben soll, das der damals 17-jährige Aiwanger besucht hatte. Ausgegraben hat den Fall die traditionell der SPD nahestehende Süddeutsche Zeitung (SZ).
Im Schuljahr 1987/88 sollen dort Flugblätter aufgetaucht sein, in denen als "Hauptpreise" in einem "Wettbewerb der größten Landesverräter" unter anderem ein "Freiflug durch den Schornstein in Auschwitz" und ein "lebenslänglicher Aufenthalt im Massengrab" "ausgelobt" wurden. Nach Darstellung der SZ soll Aiwanger mit einem Stapel der Flugblätter erwischt worden sein, was für ihn disziplinarische Konsequenzen gehabt habe. Der Zeitungsbericht beruft sich auf "mehrere Personen", mit denen man gesprochen habe und die den Vorfall geschildert hätten.
Aiwanger hat die Darstellung inzwischen "entschieden zurückgewiesen". Er habe "so etwas nicht produziert". Dennoch wird die Erzählung medial ausgeschlachtet und sorgt offenbar für schlechte Stimmung innerhalb der Regierungskoalition in München.
Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, hat sich inzwischen zu den Vorwürfen gegen seinen Koalitionspartner geäußert. "Da sind schlimme Vorwürfe im Raum", sagte der CSU-Chef am Rande eines Volksfestbesuchs in Augsburg. "Dieses Flugblatt ist menschenverachtend und geradezu eklig." Er forderte Aiwanger auf, die Vorwürfe umgehend und vollständig aufzuklären.
Die SPD in Bayern will eine Sondersitzung im bayerischen Landtag beantragen. Es sei "unvorstellbar, dass ein Verfasser derartiger Zeilen im Bayerischen Landtag sitzt oder auch nur einen Tag länger ein öffentliches Amt in unserem Land bekleidet", erklärte der bayerische SPD-Fraktionsvorsitzende Florian von Brunn.
Über den Fall haben sämtliche Massenmedien Deutschlands berichtet, wobei die Tendenz in der Berichterstattung dahin geht, den Vorwurf als bewiesene Tatsache anzusehen. Die Fragwürdigkeit dessen, einen 35 Jahre zurückliegenden Fall hervorzuholen, der einen damals Minderjährigen betraf, wird nicht thematisiert, obwohl mehrere Juristen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Berichterstattung erhoben haben. Die SZ müsse erklären, woraus sich bei einem "Uralt-Fall des seinerzeit noch minderjährigen Aiwangers ein aktuelles öffentliches Interesse an der Berichterstattung ergeben soll", bemerkte etwa der Strafverteidiger Udo Vetter, der als Lehrbeauftragter für Medienrecht an der Hochschule Düsseldorf tätig ist.
Politische Gegner Aiwangers hingegen betonen: "So etwas verjährt nicht."
Die Freien Wähler sind seit 2008 im Landtag in München vertreten, Aiwanger ist von Anfang an Spitzenkandidat und Gesicht der Freien Wähler in Bayern. Nach den Landtagswahlen 2018 war die seit 1949 gewöhnlich mit absoluter Mehrheit Bayern allein regierende CSU gezwungen, eine Koalition mit den Freien Wählern einzugehen. Aiwanger ist seitdem Wirtschaftsminister und Stellvertretender Ministerpräsident des Freistaats.
Am 8. Oktober stehen die nächsten Landtagswahlen in Bayern an. Nach den bisherigen Meinungsumfragen können die Freien Wähler damit rechnen, ihr Ergebnis von 2018 (11,6 Prozent) zu halten oder sogar auf bis zu 14 Prozent zu verbessern. Söders CSU kann je nach Umfrage mit 38 bis 41 Prozent der Wählerstimmen rechnen, was die Fortsetzung der Regierungskoalition in der bisherigen Form gewährleisten würde.
Ein Skandal um die Person Aiwangers kommt politischen Gegnern der beiden Regierungsparteien in Bayern daher sehr gelegen. Auffallend ist, wie bemüht die Presse ist, ihm einen rechtsradikalen Hintergrund anzuhängen. Die SZ etwa versuchte den "Rechtsextremismus" des Wirtschaftsministers aus einer Äußerung im Wahlkampf herzuleiten, als er dazu aufrief, die "schweigende Mehrheit" solle sich "die Demokratie zurückholen".
Mittlerweile wurde auch bekannt, dass Hubert Aiwanger nicht der Verfasser des Flugblatts war. Der Bruder von Bayerns Vize-Ministerpräsident Hubert Aiwanger hat eingeräumt, zu Schulzeiten vor mehr als 30 Jahren ein antisemitisches Flugblatt geschrieben zu haben. "Ich bin der Verfasser des in der Presse wiedergegebenen Flugblattes", heißt es in einer persönlichen Erklärung des Bruders, die ein Freie-Wähler-Sprecher weiterleitete. "Ich distanziere mich in jeder Hinsicht von dem unsäglichen Inhalt und bedauere sehr die Folgen dieses Tuns. Ich war damals total wütend, weil ich in der Schule durchgefallen war. Ich war damals noch minderjährig." Zuvor hatte die Mediengruppe Bayern über das Eingeständnis des ein Jahr älteren Bruders Helmut Aiwanger berichtet.
Freie-Wähler-Chef Aiwanger hatte Vorwürfe im Zusammenhang mit dem Flugblatt zuvor in einer schriftlichen Erklärung zurückgewiesen: "Ich habe das fragliche Papier nicht verfasst und erachte den Inhalt als ekelhaft und menschenverachtend." Er ergänzte dabei: "Der Verfasser des Papiers ist mir bekannt, er wird sich selbst erklären." Weder damals noch heute war und sei es seine Art gewesen, "andere Menschen zu verpfeifen", fügte der 52-Jährige hinzu.
Für die SZ dürften sich aufgrund der Berichterstattung nun auf jeden Fall einige Probleme ergeben.
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