Der türkische Professor Hasan Alkas hat in einem Interview mit dem Wirtschaftskurier Einblicke in die Sicht aus dem Ausland auf die auch für Einheimische oft nur schwer nachvollziehbaren Debatten und Realitäten in der Bundesrepublik Deutschland gegeben. Am Montag hat der Focus dieses Gespräch vom November 2022 noch einmal veröffentlicht.
Alkas, der als Professor für Mikroökonomie an der Hochschule Rhein-Waal in Kleve lehrt und seit mehreren Jahren in Deutschland lebt, nahm dabei kein Blatt vor den Mund. Nach seinen Gedanken zu diesem Land befragt, erklärte der Professor zunächst:
"Die Türken schmunzeln derzeit über Deutschland, und das tut mir persönlich, der ich hier lebe, weh. Deutschland wurde von der Türkei an sich immer bewundert als Industrieland, als Autoland, als Maschinenland. Deutsche Straßen waren immer ein Symbolbild für ein prosperierendes Deutschland."
Nachfolgend äußerte sich Alkas detaillierter zu den Themen Energiepolitik, Industrie, Bürgergeld und Gesellschaft. Auf die Frage, wie die deutsche Energiewende in der Türkei ankomme, sagte der Ökonom:
"In der Türkei glaubt keiner, dass Deutschland mit Wind und Solar über die Runden kommen wird. Das ist doch Zufallsstrom, der ist mal da und mal nicht. Da kann man sich nicht drauf verlassen. Das kann niemand in der Türkei verstehen. Warum machen die Deutschen das, fragen die sich."
Die Deutschen würden ihre Industrie zerstören. Er frage sich, warum die deutsche Autoindustrie, die "Gewinnmaschine" Deutschlands kaputtgeredet und geschlachtet wird, warum die Verbrennungsmotoren verschwinden sollen. In der Türkei wundere man sich darüber, warum man hier in dieser Lage die Atomkraftwerke nicht wieder ans Netz bringe. Die Türken selbst würden mit russischer Hilfe gerade einen neuen Atommeiler bauen:
"Die Kraftwerke abzustellen, begreift keiner, wo Deutschland doch so gute Ingenieure hat. Wieso kann Deutschland glauben, dass es ohne Atomkraft geht? Alles, was einmal weg ist, ist weg. Die Deindustrialisierung schreitet voran."
Wenig Verständnis zeigt Alkas auch für das sogenannte "Bürgergeld":
"Die Deutschen kriegen ihre Leute nicht mehr zum Arbeiten, wenn sie ihnen so viel für nichts zahlen. Die Deutschen werden verzogen. Da schütteln viele Türken den Kopf."
Die Kritik seiner Landsleute an Deutschland verletze ihn. Er sei hier groß geworden und verteidige dieses Land. Doch auch das eigene Urteil von Alkas über die Deutschen gehört zu Deutschland:
"Die Deutschen glauben oft, sie seien die besten. Etwa beim Klimawandel. Da wollen sie vorangehen und andere mitreißen. Sie tun etwas, damit andere ihnen folgen. Und da haben Türken so ihre Zweifel."
Besondere Sorgen bereite es ihm, dass die hier lebenden Türken ihre Bindung zu Deutschland so verlieren könnten:
"Wir Türken wollen ein starkes und erfolgreiches Deutschland, weil wir davon profitieren. Wir sehen ein schwaches Deutschland und machen uns Sorgen. Das hat Folgen. Deutschland stand immer für Gründlichkeit, Verlässlichkeit, Fleiß – alles Werte, die dabei sind, verloren zu gehen. Türken sehen in Deutschland langfristig nicht mehr ihre Zukunft. Das ist traurig, das macht mir noch mehr Sorgen, als die Menschen, die in der Türkei über Deutschland lachen. Denn es ist eine schleichende Bindungserosion."
Besonders vernichtend fällt das Urteil des Professors über den türkischstämmigen Landwirtschaftsminister Cem Özdemir aus:
"Cem Özdemir ist aus türkischer Sicht ein Politiker, der sich außerhalb der Politik nirgends bewährt hat. Das kommt nicht gut an in der Türkei. Das ist eher 'Jugend forscht'."
Auch die Sicht von Alkas auf Russland entspricht nicht dem, was deutsche Leser und Zuschauer sonst üblicherweise in Medien zu lesen und zu hören bekommen. Nach dem Verhältnis seines Landes zu Russland befragt, erklärte der Ökonom:
"In der Türkei spielt bei solchen Fragen immer der erste Mann die bestimmende Rolle. Also Erdoğan. Der erste Mann an der Spitze hat in der Türkei deutlich mehr zu sagen, als in Deutschland. Und Erdoğan versucht mit Russland und der Ukraine klarzukommen. Günstige Energie, günstiges Getreide sind beide wichtig für die Türkei. Also sind Russen unverändert willkommen."
Wenig erfreut zeigt sich der Professor über Muezzin-Rufe in Köln. Er sprach in diesem Zusammenhang von "vorauseilendem Gehorsam" und "Gesinnungspolitik" – und schlug den Bogen von falschverstandener Toleranz hin zur Diskriminierung von Ungeimpften:
"Die Deutschen haben oft so einen vorauseilenden Gehorsam. Da werden türkische Eltern in deutschen Kindergärten gefragt, ob der Sohn oder die Tochter an der Weihnachtsfeier teilnehmen darf und meinen damit etwas Richtiges zu tun. Tatsächlich aber ist das eine Art Gesinnungspolitik. Die Deutschen stecken in einer Verblendungsblase. In der Blase muss man bestimmte Sachen gut finden und andere schlecht. Während Corona wurde das sichtbar, als Ungeimpfte ausgegrenzt wurden. Das hat vielen Türken in Deutschland Angst gemacht."
Abschließend empfahl Alkas den Deutschen dringend einen Reset – nämlich die Rückbesinnung auf alte Tugenden:
"Die Deutschen brauchen einen Reset: Die alten Tugenden, der Optimismus müssen zurückkehren. Sie sollten endlich zur alten Stärke finden. Ich habe dem Land viel zu verdanken, aber seit Corona hat sich viel verändert. Was seither passiert ist, ist nicht positiv. Viele Menschen haben der Gesellschaft den Rücken zugedreht."
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