Einige Ostdeutsche sind "irgendwo in der Diktaturverherrlichung hängengeblieben". Diese Auffassung äußerte die Bundestagsvizepräsidentin und frühere Fraktionsvorsitzende der Grünen Katrin Göring-Eckardt in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel.
Die frühere Theologiestudentin befindet sich derzeit auf einer "Demokratie-Tour in Ostdeutschland". Vom Tagesspiegel befragt, ob sie die Einschätzung des früheren Ostbeauftragten der Bundesregierung Marco Wanderwitz teile, dass einige Ostdeutsche auch nach 30 Jahren nicht in der Demokratie angekommen seien, entgegnete Göring-Eckardt:
"Einige, ja, dem muss man zustimmen. Vielleicht sind die irgendwo in der Diktaturverherrlichung hängen geblieben, weil dort jemand anderes für sie alles lösen musste. Wir sind aber für Freiheit auf die Straße gegangen, die friedliche Revolution hatte diesen demokratischen Kern. Wer heute damit nichts anfangen kann, sollte sich fragen, wie sein Leben wäre ohne diese Freiheit."
Sie habe die Sorge, "dass Menschen nicht mehr genügend Vertrauen in die Demokratie haben und dass sie das Gefühl haben, es wird nicht genug auf ihren ganz normalen Alltag geachtet. Wer keine Einflussmöglichkeiten sieht, fühlt sich auch nicht verantwortlich." Was Menschen wählen sollten, die die Ansätze der etablierten Parteien etwa in den Themengebieten Ukraine, "Klimaschutz" und Migration ablehnen, verriet die Grüne den Lesern des Tagesspiegel nicht.
Die Frage der Zeitung, ob sie Verständnis für "die Wut der Wähler der AfD" aufbringe, verneinte Göring-Eckardt:
"Ich habe Verständnis dafür, dass Leute sich überfordert fühlen, deswegen muss man aber keine rechtsradikale Partei wählen. Es gibt Menschen, die sich fragen, warum streiten die in der Politik nur? Auch dafür habe ich Verständnis, dazu tragen wir ja selbst bei. Das bedeutet aber auch, dass man der AfD weder rhetorisch noch in den Forderungen hinterherlaufen darf."
Von einer Mitschuld der Grünen am Aufstieg der AfD wollte die gebürtige Thüringerin nichts wissen:
"Man kann uns wirklich viel zuschreiben. Ich bin Protestantin und immer bereit, Schuld auf mich zu nehmen. Aber in dieser Frage sage ich: Nein, wirklich nicht. Auch wir haben einen Beitrag dazu geleistet, dass Menschen verunsichert sind. Das ist trotzdem kein Grund, AfD zu wählen."
Wie andere Grünen-Politiker verteidigte Göring-Eckardt das Heizungsgesetz, das nur schlecht erklärt worden sei:
"Es wurde zu wenig erklärt, warum Heizungen klimaneutral werden müssen, weil sie nämlich teurer werden. Vielen Leuten war das Problem, dass die Preise für fossile Energie immer weiter steigen werden, nicht bewusst. Man muss von Anfang an sagen, was der Privatmensch davon hat. Klimaschutz ist für das Überleben der Menschheit zentral, aber er hilft auch dem eigenen Portemonnaie."
Göring-Eckardt brachte es im Laufe ihrer Karriere ohne jeden Berufs- und Studienabschluss in die Spitze der Grünen-Bundestagsfraktion, in das Präsidium der Evangelischen Kirche in Deutschland und das des Deutschen Bundestages. Sie war entschiedene Befürworterin der Hartz-Reformen und restriktiver Maßnahmen in der Corona-Krise.
In den vergangenen Tagen wurde wiederholt an Äußerungen Göring-Eckardts während der Flüchtlingskrise erinnert. Im November 2015 hatte die Grüne erklärt:
"Wir reden darüber, wie unser Land in 20 oder 30 Jahren aussieht. Es wird jünger werden. Ja, wie großartig ist das denn, wie lange haben wir über die Demografie gesprochen! Es wird bunter werden. Ja, wie wunderbar ist das! Das haben wir uns immer gewünscht. Wahrscheinlich wird es auch religiöser werden ... Und ja, unser Land wird sich ändern, und zwar drastisch. Und ich sag' euch eines, ich freu' mich drauf!"
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