Von Susan Bonath
Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ist empört. Um gerade einmal 41 Cent auf 12,41 Euro soll der Mindestlohn steigen – und das erst im kommenden Jahr – und dann 2025 um weitere 41 Cent. "Diese Minierhöhung ist ein Schlag ins Gesicht von fast sechs Millionen Betroffenen, die hierzulande zum Mindestlohn arbeiten", kritisierte die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi am Sonntag gegenüber der Presse. Die Mindestlohn-Kommission habe mit ihrem Mehrheitsbeschluss die Inflationsrate "komplett ignoriert".
Dies ist freilich richtig: Aufgrund der Preissteigerungen befeuert die Kommission so den seit 2020 konstant zunehmenden Reallohnverlust weiter, mithin die Verarmung großer Teile der Bevölkerung. Auch läuft ihre Mehrheitsentscheidung einer EU-Richtlinie zuwider. Wie aber konnte es dazu kommen, obwohl auch DGB-Mitglieder in diesem Gremium sitzen? Und was sagen eigentlich die Parteien zu höheren Mindestlöhnen?
Mini-Erhöhung trotz hoher Inflation
Die Mieten steigen, die Energie- und sonstigen Nebenkosten sind explodiert, die Nahrungsmittel anhaltend teurer geworden.
Die enorme Inflation seit dem vergangenen Jahr betrifft vor allem Waren für die Grundbedürfnisse der Menschen. Um den Unmut in der Bevölkerung zu beruhigen, erhöhte die Bundesregierung den Mindestlohn darum im Oktober 2022 von 10,45 auf 12 Euro pro Stunde, ohne die Kommission anzurufen.
Das hatte die Unternehmerseite in der Kommission natürlich sehr verärgert. Sie ignorierte nun deswegen die politische Maßnahme vom Oktober und legte jetzt den vorherigen Mindestlohn von 10,45 Euro zugrunde. Nach dieser Rechnung entspricht eine von ihr empfohlene Erhöhung auf 12,41 Euro also fast 19 Prozent.
Das Problem dabei ist: Die gesamte Inflation im vergangenen Jahr ist in diesem Ausgangswert, also 10,45 Euro Mindestlohn, gar nicht berücksichtigt. Nach Ansicht der Unternehmerverbände und ihrer wissenschaftlichen Fürsprecher hätten die Ärmsten der Beschäftigten demnach zwei Jahre lang noch enormere Kaufkraftverluste hinnehmen sollen als ohnehin schon.
Unternehmerseite stellt Kommissionsmehrheit
Allerdings sitzen auch drei Vertreter der DGB-Gewerkschaften mit in der Mindestlohn-Kommission. Doch ein Blick auf die Zusammensetzung dieser Kommission zeigt: Die Interessen sind ungleich vertreten. Mit Andrea Kocsis von der Gewerkschaft Verdi, Robert Feiger von der IG BAU und Stefan Körzell als Mitglied des DGB-Vorstandes ist die sogenannte Arbeitnehmerseite zu dritt im Gremium.
Offiziell finden sich dort mit Brigitte Faust, Steffen Kampeter und Karl-Sebastian Schulte auch drei Vertreter der sogenannten Arbeitgeberseite. Allerdings kommen dazu mit Lars P. Feld und Tom Krebs noch zwei "wissenschaftliche" Mitglieder. Beide sind bürgerliche Ökonomen und klar auf der Kapitalseite zu verorten.
Feld zum Beispiel ist seit 2010 Direktor am Walter Eucken Institut e. V. V., das für extremen Neoliberalismus steht: Minimalstaat und Diktat durch Kapital und Markt. Er lehrt auch an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg, die sich der neoliberalen Wirtschaftslehre nach Friedrich August von Hayek verschrieben hat. In seiner Funktion als Sprecher in der Denkfabrik "Stiftung Marktwirtschaft" lebt er seine marktradikalen Ambitionen schließlich aus. Für Interessen der lohnabhängig Beschäftigten ist in dieser Ideologie kein Platz.
Hinzu kommt noch die Kommissionsvorsitzende Christiane Schönfeld, eine Rechtswissenschaftlerin mit einer langen Karriere durch die Institutionen der Bundesagentur für Arbeit (BA) und – wie die beiden Wissenschaftler – eng verbandelt mit der Bundesregierung.
Die Lage ist also eindeutig: Die Fantasie der SPD-Gewerkschaften von einer Sozialpartnerschaft zwischen Kapital und Arbeit gehen hier nicht auf, die Stimme der Wirtschaft hat schlicht ein stärkeres Gewicht.
Heiße Luft von der SPD
So kam der DGB mit seiner Forderung nach einer Erhöhung des Mindestlohns auf 13,50 Euro pro Stunde erwartungsgemäß nicht durch. DGB-Vorstands- und Kommissionsmitglied Körzell bedauerte dies im Anschluss: "Die Arbeitgeber und die Vorsitzende der Kommission haben sich dem verweigert." Ihre Stimme sei am Ende entscheidend gewesen, berichtete das ZDF.
Nun trommelt die SPD bekanntermaßen gerne laut, was sich am Ende oft als heiße Luft entpuppt. So auch jetzt: Am ersten Juliwochenende machte die angebliche Arbeiterpartei mit einer Schlagzeile auf sich aufmerksam: Sie strebe an, den Mindestlohn sogar auf 14 Euro zu erhöhen, um die Inflation abzufedern. In den Medien liefertesich der SPD-Bundesvorsitzende Lars Klingbeil und der FDP-Mann Wolfgang Kubicki ein Scheingefecht zu dieser Forderung: Klingbeil dafür – Kubicki dagegen.
Als wäre es abgesprochen, kam schließlich der Bundeskanzler Olaf Scholz, zwar nebenbei auch Klingbeils Parteikollege, auf den Plan und zerschoss, versteckt im Sommerinterview mit der ARD, die vom SPD-Chef populistisch vorgetragenen 14-Euro-Wünsche.
Auch seine Partei, die SPD also, werde sich natürlich mit dem Ergebnis dieser Kommission abfinden und sich "an die Regeln halten" – der MDR berichtete ebenfalls darüber.
Linke-Antrag: Regierung soll EU-Mindestlohnrichtlinie umsetzen
Die Linksfraktion hatte derweil Ende Juni im Bundestag ein anderes Fass aufgemacht: Deutschland setzt eine EU-Richtlinie zum Mindestlohn nicht um. Die empfiehlt den Mitgliedsstaaten nämlich 60 Prozent des mittleren Einkommens als Untergrenze für nationale Mindestlöhne. Das wären in Deutschland nach Berechnung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung sowie der Hans-Böckler-Stiftung genau 13,53 Euro brutto pro Arbeitsstunde.
Die Linke-Abgeordnete Susanne Ferschl sagte in der Debatte um den Antrag ihrer Fraktion, durch solch eine Untergrenze würden Armutslöhne weitgehend ausgeschlossen. Noch immer habe Deutschland einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa. Nahezu jeder fünfte Beschäftigte sei davon betroffen. Überdies sei die Tarifbindung mit höchstens 50 Prozent nach wie vor schlecht in der Bundesrepublik. Das beanstande sogar das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung.
Doch mit ihrer Forderung steht die Partei Die Linke alleine da im Bundestag. Sowohl die regierenden als auch die anderen Oppositionsparteien stemmten sich in seltener Einigkeit konsequent dagegen. Die Behauptung, die AfD und die Grünen hätten nichts gemeinsam, stimmt demnach nicht so ganz.
SPD, Grüne, FDP, AfD und Union unisono dagegen
Bernd Rützel (SPD) pochte auf die Tarifbindung als "Goldstandard". Das tut die SPD allerdings schon seit Ewigkeiten, erreicht hat sie damit nichts, im Gegenteil: Die Tarifbindung ist nach 1990 immer weiter zurückgegangen und liegt, wie gesagt, nur noch bei etwa 50 Prozent, im Ostdeutschland sogar noch niedriger. Wolfgang Strengmann-Kuhn (Bündnis 90/Die Grünen) lobte sogar, dass die Anhebung auf 12 Euro Deutschland immerhin näher an die 60-Prozent-Marke und vom unteren Rand in das Mittelfeld Europas katapultiert habe.
Der 29-jährige FDP-Jungpolitiker Jens Teutrine propagierte, ein "gerechter Mindestlohn" sei "falsch", denn er berücksichtige nicht die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands.
Die Erhöhung auf 12 Euro sei bereits "ein Eingriff zu viel" gewesen. Allerdings hat Teutrine noch niemals selbst in der "freien Wirtschaft" gearbeitet Kein Wunder: Er hat noch keinen Berufsabschluss.
In dasselbe Horn bliesen die anderen beiden Oppositionsfraktionen. Die AfD-Abgeordnete Gerrit Huy fühlt sich von der EU-Kommission übergangen. Diese habe gar keine Regelungskompetenz, sie habe sich das "einfach angemaßt", wetterte sie. Durch zu hohe Löhne werde, so Huy, nur die Arbeitslosigkeit vergrößert. Diese etwas abzubauen, so lobte sie, sei in Ostdeutschland angeblich durch "günstige Löhne" geglückt. Ähnlich argumentierte Axel Knoerig von der CDU/CSU-Fraktion: Man sei für das "Prinzip soziale Marktwirtschaft", und in dieser sei der Staat für Mindestlöhne nicht zuständig.
Von den Grünen bis hin zur AfD ist man sich also einig im festen Glauben an "den Markt", der alles richten möge. Ob sie dabei bedenken, dass ihr hochgehaltener Wettbewerb ins Leere läuft, wenn sich immer weniger Menschen die Waren leisten können?
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